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Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)

Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)

Titel: Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
Autoren: Avery Williams
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gesagt, ich könne fliegen. Wenn ich mich nur daran erinnern könnte, wer das war, dann könnte ich wegrennen. Am Ende der Treppe steht der Officer, der mich wegen Schulschwänzens verhaftet hat. Er hält einen Stapel ausgedruckter E-Mails in der Hand und schüttelt den Kopf. Aber ich habe versucht, sie zu retten!, will ich rufen und erklären, was geschehen ist, aber ich bringe keinen Ton heraus. Ich probiere es wieder und wieder, mein Mund öffnet sich in einem stummen, verzweifelten Ruf. Durch diese Kraftanstrengung wache ich schließlich nach Luft schnappend auf, die Hand an der Kehle.
    Die kleine Uhr auf Kaileys Nachttisch beleuchtet den Raum. Es ist 02:13 Uhr. Ich sinke zurück in mein Kissen, überglücklich, wach zu sein. Ich drehe mich um und schließe erneut die Augen, als mich eine furchtbare Erkenntnis überkommt: Cyrus’ Zimmer ist voller Beweise. Der Artikel über meinen Autounfall, die E-Mails, die Fotos. Das Armband. Für die Polizei mag sein Tod ein Raubüberfall mit Todesfolge wie aus dem Lehrbuch sein, doch wie lange wird es dauern, bis ein eifriger Detective sich die Sache näher anschaut? Die Spuren führen vielleicht nicht direkt zu mir, noch nicht, aber sie werden Fragen aufwerfen.
    Ich muss sofort in das Motel und alles mitnehmen. Rasch schlüpfe ich aus dem warmen Bett und ziehe mir Jeans, ein langärmeliges T-Shirt und einen dicken Wollpullover an. Leise schleiche ich mich aus dem Haus. Kaileys Fahrrad steht immer noch in der Stadt, weshalb ich mir Bryans ausleihe und es langsam und vorsichtig auf die Fahrbahn schiebe.
    Der Nebel ist immer noch dicht, als ich die Straße entlangfahre, feine Wassertropfen setzen sich auf Wimpern und Haaren fest. Ich trete kräftig in die Pedale und überfahre mehrere Stopp-Schilder und rote Ampeln, rase durch Berkeleys ausgestorbene Innenstadt und durch Temescal im Norden von Oakland, die Augen in der feuchten Luft zusammengekniffen, bis ich mein Ziel erreiche: das Fireside Inn.
    Wieder verstaue ich das Fahrrad hinter dem Müllcontainer und betrete vorsichtig den Parkplatz. Als ich mich Cyrus’ Zimmer nähere, überkommt mich plötzliche Trauer um ihn. Ich stelle mir seine letzten Sekunden vor – die endgültigen, flüchtigen Gefühle eines Jungen, der nie erwartet hätte zu sterben, der so viel gesehen, so viel Geschichte der Menschheit erlebt, überlebt hat, etliche Kriege sowie Geburten und Tode von Nationen. Er muss schreckliche Angst gehabt haben. Nur wo ist seine Seele jetzt? In den Äther diffundiert? Oder ist er noch irgendwo hier und beobachtet mich gequält, jedoch unfähig, in den Lauf der Dinge einzugreifen?
    Ich erschaudere. Ich hoffe, dass er loslassen kann, damit er frei wird. Sosehr ich ihn auch hasse, diese Folter würde ich niemandem wünschen.
    Trotz meiner ganzen Anstrengungen, Cyrus zu entfliehen, fühle mich auf einmal einsam. Er war sechshundert Jahre lang mein Gefährte. Er war der Einzige auf der ganzen Welt, der meine Herkunft verstehen konnte. Der meine Mutter kannte, meinen Vater. Der viele Leben lang an meiner Seite war, mehr Leben, als irgendjemand auf dieser Welt in der Lage sein sollte zu leben. Ein klarer Abschluss. Das wollte ich, das brauchte ich. Doch es ist auch ein überwältigendes Gefühl.
    Du bist nicht allein, rufe ich mir in Erinnerung, als ich die Treppen nach oben gehe. Du hast Noah und Leyla. Und du hast Kaileys Familie. Jetzt, da Cyrus tot ist, kann ich vielleicht Kontakt mit Charlotte aufnehmen – sie wissen lassen, dass es mir gutgeht. Die Vorstellung erfüllt mich mit Hoffnung, während ich rasch das Schloss knacke, die Tür öffne und hineingehe.
    Wie schon bei meinem ersten Besuch schlägt mir seine Präsenz entgegen. Ich kann immer noch seine Seife riechen, den Geruch seiner ledernen Aktentasche. Ich schalte das Licht ein und muss erkennen, dass das Zimmer vollkommen gereinigt wurde und all seine Sachen weg sind. Die eleganten Anzüge und polierten Schuhe, die Wand mit den Papieren – alles weg. Ich seufze. Okay, in der Sache kann ich jetzt nichts mehr tun. Ich werde einfach Unwissen vortäuschen, wenn mir die Polizei Fragen stellen sollte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich schauspielern müsste.
    Ich hole Kaileys Telefon aus der Tasche und schaue auf die Uhr. Es ist beinahe vier Uhr morgens, ich muss zurückfahren. Doch dann setze ich mich für eine Minute auf das Bett, streiche mit den Fingern über den rauhen, fadenscheinigen Polyesterüberwurf. Ich erinnere mich, wie ich heute Morgen auf
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