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Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)

Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)

Titel: Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
Autoren: Avery Williams
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der Wasseroberfläche, aber für mich ist es fast zu hell, selbst mit der großen Sonnenbrille. Blinzelnd beobachte ich einen Kolibri, der blitzschnell zwischen den purpurroten Blüten der Trichterwinden hin und her flattert, die aus den verzinkten Blumenkästen vom Flohmarkt aufragen. Ich bin immer wieder verzaubert, wenn Vögel den Weg hierher finden, in den zwanzigsten Stock mitten in der Stadt. Woher wusste der kleine Kerl, dass es hier Blumen gibt? Hat ihn der Instinkt nach oben geführt oder pures Glück?
    Wenn ich versuche wegzufliegen, werde ich dann genauso viel Glück haben und finden, wonach ich suche?
    Dieses Leben – die ständige Kälte, der Schmerz, der in regelmäßigen Abständen meine Gelenke durchzuckt, meine Kurzatmigkeit – hat mir die Entscheidung abgenommen. Ausnahmsweise ist mein Körper genauso erschöpft wie meine Seele. Seit sechshundert Jahren zerre ich sie nun schon über die Erde – es ist wahrlich an der Zeit, dieses Leben zu verlassen und herauszufinden, was danach kommt. Ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass ich keine Angst habe, doch bei jedem Gedanken daran durchläuft mich ein freudiger Schauer. Es ist so lange her, seit ich mich zuletzt ins Unbekannte gewagt habe.
    »Ich kenne diesen Blick. Woran denkst du?«, fragt meine beste Freundin Charlotte, als sie durch die Glastür auf die Dachterrasse tritt. Sie hat ein Tablett mit Eistee in der Hand; die Feuchtigkeit perlt wie zittrige Diamanten an den Gläsern herab. Als ich eines nehme, fallen die kleinen Tropfen zu Boden und verdampfen zischend.
    Ich schiebe mir die Sonnenbrille ins dunkle Haar und lächele. »An nichts«, lüge ich. »Ich genieße nur die Sonne.«
    Ich kann niemanden in meinen Plan zu sterben einweihen, nicht einmal Charlotte. Cyrus würde mich nie gehen lassen. Nicht ohne einen Kampf, den ich ganz sicher verlieren würde. Mehr als alles andere auf der Welt will ich endlich frei sein von diesem Mann, der mich mit seinen Fäusten kontrolliert, mit seinen Worten, seinem eisernen Willen – dem Mann, der mich zu dem gemacht hat, was ich bin.
    Charlotte sieht mich aus zusammengekniffenen haselnussbraunen Augen an, erwidert jedoch nichts. Nach zwei Jahrhunderten Freundschaft kann ich ihr nichts verheimlichen, aber ich weiß auch, dass sie mich nicht drängen wird. Ich schätze ihr Verständnis und ihre Akzeptanz; das werde ich am meisten vermissen, wenn ich das alles hier hinter mir lasse. Das und den Sonnenschein, doch ich kann es mir nicht leisten, an das zu denken, was ich verliere, wenn mein Plan funktionieren soll.
    Charlotte geht auf der Dachterrasse umher und bietet unseren Freunden ebenfalls Getränke an. Jared zieht eine Flasche hervor, um seinen Drink etwas aufzupeppen. Mit den Steckern und Ringen, die sich sein Ohr entlangziehen wie eine felsige Küste, sieht er ganz wie der Pirat aus, der er bei unserer ersten Begegnung im Jahr 1660 war. Amelia lehnt ab, ihr weißblondes Haar glänzt in der Sonne, ihre tiefe Bräune ein harter Kontrast zu meiner weißen Haut.
    Als sich Charlotte Sébastien nähert, der seine langen Dreadlocks im Nacken zusammengebunden hat, huscht ein schüchternes Lächeln über ihr Gesicht. Er lehnt an dem orangefarbenen Geländer, das die Terrasse umgibt. Ich bemerke, wie seine Finger die ihren streifen, als er sich einen Eistee nimmt. Peinlich berührt schüttelt sie den Kopf, wobei ihr die kupferroten Locken ins Gesicht fallen.
    Ich habe ihr rotes Haar schon immer gemocht, das sich kaum von den Haaren unterscheidet, mit denen sie geboren wurde. Wir alle haben eine ähnliche Erfahrung hinter uns. Als Cyrus uns zu Wiedergeborenen machte, versuchten wir uns eine Zeitlang an den verschiedensten Körpern. Alt, jung, männlich, weiblich. Doch dies war für uns alle zu verwirrend, so dass wir uns nach und nach für Erscheinungsformen entschieden, die unserem früheren Selbst ähnelten. Ich bin seit Jahrhunderten eine Inkarnation meiner selbst – braune Augen, lange braune Haare.
    Wieder öffnet sich die Glastür, und Cyrus, unser Anführer, gesellt sich zu uns. Er trägt ein gut geschnittenes schwarzes Hemd, das sein platinblondes Haar und seine große, schlanke Gestalt betont. Um den Hals trägt er die Phiole mit dem Elixier, mit dem er uns zu Wiedergeborenen gemacht hat. Man kann ihn durchaus attraktiv nennen, aber der Zauber, den ich bei seinem Anblick einst verspürt habe, ist längst verflogen.
    Er setzt sich neben mich, mustert mich mit seinen eisblauen Augen und fährt
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