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Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)

Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)

Titel: Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
Autoren: Avery Williams
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Fensterscheibe sehe ich, wie Charlotte die Mundwinkel nach unten zieht. Wir machen uns nur selten über Cyrus lustig, selbst wenn er nicht anwesend ist, und auch jetzt ist es ihr nicht recht.
    Dennoch antwortet sie: »Ich vermute, alles ist möglich.« Sie schlägt die Augen nieder und flüstert: »Manchmal hoffe ich, dass Jack immer noch irgendwo da draußen ist.«
    Ich berühre ihren Arm. »Ich suche auch nach meiner Mutter.«
    Schweigend essen wir unser Eis, hören dem Brummen der Gefriertruhen zu und dem Mädchen hinter dem Tresen, das fröhlich in sein Telefon kichert und sich der Tatsache nicht bewusst ist, dass zwei erfahrene Mörderinnen mit ihr im Raum sind.
    Dann deutet Charlotte nach draußen. »Seamus aus Irland, 1878!«
    Ich runzele die Stirn. »Was, das Eichhörnchen?«
    »Ja! Er hat immer Essen gehortet. Und seine Schneidezähne waren ungewöhnlich lang«, sagt sie schadenfroh.
    »Du bist schrecklich«, erwidere ich lachend.
    »Aber du liebst mich trotzdem.« Sie wird ernst. »Sera, ich weiß, dass du wegen morgen nervös bist. Alles wird gutgehen, das verspreche ich dir.«
    Auf einmal sitzt mir ein Kloß in der Kehle, und ich sehe sie nicht an, aus Angst, ich könnte mich sonst verraten.
    »Du hast das doch schon hundertmal gemacht«, fährt sie fort. »Cyrus wird dafür sorgen, dass dein neuer Körper perfekt ist.«
    »Findest du denn nicht, dass es falsch ist?«, forsche ich weiter. »Wieso sollte es uns zustehen, über Leben und Tod von anderen zu entscheiden?«
    »Weil wir sind, was wir sind, Sera. Diese Wahl treffen wir alle. Ich wünschte, jeder wäre so wie wir.« Eines sagt sie allerdings nicht, nämlich: »Ich wünschte, Jack hätte wie wir sein können.« Es war schon schwer genug, Cyrus dazu zu bewegen, Charlotte zu verwandeln. Ihren Bruder hätte er niemals akzeptiert.
    »Hm«, erwidere ich nur, weil ich an unserem letzten gemeinsamen Abend nicht mit ihr streiten will. Ich habe sechshundert Jahre gebraucht, um mich mit dem Tod abzufinden. Es steht mir nicht zu, Charlotte zu drängen. »Los, gehen wir heim. Ich hätte Lust, Während du schliefst anzuschauen.«
    »Oh bitte, nicht schon wieder«, stöhnt Charlotte.
    »Doch! Es ist mein Lieblingsfilm.« Ich stelle mich mühsam auf meine zitternden Beine und winke dem blauhaarigen Mädchen zum Abschied zu.
    Sie ist so in ihr Telefongespräch vertieft, dass sie unseren Aufbruch erst bemerkt, als die Kuhglocke über der Tür laut klingelt. »Kommt bald wieder!«, ruft sie uns nach, wie sie es bei jedem Kunden macht.
    Der Wind hat aufgefrischt und bringt einen leisen Hauch von Herbst mit sich, ein Geruch, den ich immer schon mit allerlei Möglichkeiten assoziiert habe.
    »Na gut«, lenkt Charlotte ein und läuft raschelnd durch einen Laubhaufen auf dem Gehsteig. »Schauen wir eben Während du schliefst, aber danach will ich Casablanca sehen.«
    »Wie, schon wieder?«, ziehe ich sie auf. Ihr Ellbogen landet freundschaftlich in meiner Seite, und wir lachen. Ich hake mich wieder bei ihr ein und ziehe sie an mich. »Man weiß es nicht, Char. Vielleicht ist Jack in diesem Moment ja bei uns.«
    Charlotte hebt eine rote Augenbraue und lächelt wehmütig. »Vielleicht.«
    Während wir nach Hause gehen und ich mich auf meine Freundin stütze, wünsche ich mir, dass diese Nacht, ebenso wie unsere Freundschaft, niemals zu Ende gehen möge. Doch dann konzentriere ich mich wieder auf den Moment. Denn auch wenn ich sechshundert Jahre dafür gebraucht habe, weiß ich es jetzt besser. Man kann die Zeit nicht überlisten. Alles – selbst ich und eines Tages sogar Charlotte – muss einmal ein Ende haben.

Kapitel 3
    A m nächsten Morgen, dem Tag meiner Party, wache ich in einem leeren Haus auf. Ich habe nicht gut geschlafen, konnte einfach keine bequeme Schlafposition finden. Zu sehr ähnelt die kühle graue Bettwäsche meiner kränklich blassen Haut, außerdem stehen meine Knochen seltsam hervor.
    Ich ziehe den weißen Frotteemorgenmantel über und gehe langsam durch die Wohnung. Sie ist modern eingerichtet, in neutralen Farbtönen, und ich passe nur zu gut hierher. In der Küche steht eine Kanne mit heißem Kaffee, daneben meine Tasse sowie eine schmale, hohe Vase mit einer einzelnen lilasamtenen Trichterwindenblüte. Sie ist der einzige Farbfleck in der gesamten Wohnung. Unter einem glänzenden silbernen Teelöffel liegt eine Nachricht. Mit steifen Fingern falte ich sie auf und erkenne Charlottes zarte Handschrift:

Guten Morgen, S., ich bin mit Amelia
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