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Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war

Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war

Titel: Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war
Autoren: Anna Carey
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sicher.
    Es war nirgendwo sicher.
    Endlich gab das Schloss nach und ich stolperte in die dunkle Hütte hinein. Nachdem ich meinen Rucksack hereingezogen hatte, machte ich die Tür zu und lief eilig einen schmalen Gang hinunter, der in einen größeren Raum führte. Die schmutzbedeckten Fenster waren so dicht mit Ranken überwuchert, dass man nicht hinaussehen konnte. Ich tastete mich vorwärts und merkte, dass es keine Hütte war, sondern ein lang gestrecktes Haus, das in den Hügel hineinragte und zur Hälfte von Gras überwachsen war. Die Mauern waren uneben und fleckig wie eine Steinwand.
    Die fremden Stimmen waren sehr nah. »Komm schon, Raff, schmeiß die Haut in die Tasche und lass uns verschwinden.«
    »Du kannst mich mal, du Drecksack«, gab der andere zurück. Ihre Stimmen klangen tief und schroff. Sie sprachen nicht das gewählte Englisch, das wir in der Schule gelernt hatten.
    Ich hatte ein ganzes Jahr lang in dem Kurs gesessen, der über die Gefahren aufklärte, die von Männern und Jungen ausgingen, und hatte in allen Einzelheiten gelernt, wie Frauen durch das andere Geschlecht verletzt werden konnten. Zuerst kam die Einheit über »Manipulation und Liebeskummer«. Wir lasen Romeo und Julia sehr genau und analysierten, wie Romeo Julia verführte und schließlich ihren Tod herbeiführte. Lehrerin Mildred hielt einen Vortrag über eine Beziehung, die sie vor der Epidemie gehabt hatte, und die Hochgefühle, die sich so schnell in verzweifelte, wutentbrannte Abgründe verwandelt hatten. Sie weinte, als sie erzählte, wie ihr »Geliebter« sie nach der Geburt ihres ersten Kindes verließ, einem kleinen Mädchen, das später an der Seuche gestorben war. Als Grund für sein Gehen hatte er »Verwirrung« angeführt. Während der Einheit über »Häusliche Versklavung« zeigte man uns alte Werbeanzeigen von Frauen mit Schürzen. Die Lektion über »Bandenmentalität« war allerdings die erschreckendste von allen.
    Lehrerin Agnes zeigte uns Aufnahmen, die in einer Mauer verborgene Sicherheitskameras gemacht hatten. Die Bilder waren verschwommen, aber man erkannte drei Gestalten – drei Männer. Sie trieben einen anderen in die Enge, entrissen ihm die Vorräte an seinem Gürtel und richteten ihn mit einer Schrotflinte hin. Wochenlang wachte ich deshalb mitten in der Nacht schweißüberströmt auf. Immer wieder sah ich diesen weißen Blitz vor mir und den reglosen Körper des Mannes, der mit verdrehten Beinen auf dem Boden lag.
    »Du hättest nicht noch einen umzulegen brauchen, du mordgeiles Monster!«, rief eine andere Stimme. Ich verkroch mich tiefer ins Haus und drückte mich gegen eine unebene, wackelige Wand. Die Luft war heiß und roch durchdringend nach Schimmel und etwas Schärferem, etwas Chemischem. Ich zog mir das Shirt übers Gesicht und versuchte, flach zu atmen, während die Männer draußen vorbeistapften.
    Sie waren jetzt ganz in der Nähe. Ich konnte sie hören, bei jedem Schritt gaben die abgebrochenen Äste auf der Erde ein furchterregendes Knacken von sich. Vor der Hütte blieb jemand stehen. Er holte ächzend Luft und spuckte würgend Schleim aus. »Was is’n da?«, rief ein anderer. Seine Stimme klang weiter entfernt, höher. Vielleicht stand er auf der Straße.
    Der andere räusperte sich und blankes Entsetzen schnürte mir die Kehle zu. Ich drückte mich fester an die Steinwand und versuchte, mit geschlossenen Augen ruhig stehen zu bleiben. Geh weg, bitte, bitte, dachte ich.
    »Das Schloss is aufgebrochen! Geht schon mal vor, ich werf da mal ’nen Blick rein.«
    Ich wich so weit ich konnte zurück und wünschte mir, ich könnte mich in die kalten Steine hineindrücken und hinter ihrer schartigen Oberfläche verschwinden. In so vielen Lektionen hatte man uns erklärt, was sich hinter der Schulmauer befand. Lehrerin Helene hatte Fotografien einer Frau hochgehalten, der ein wilder Hund das halbe Gesicht zerfleischt hatte. Für den Fall, dass wir in der Wildnis auf uns allein gestellt wären, konnte sie allerdings nur mit einem einzigen Ratschlag aufwarten. Sie hatten uns keine Überlebenstechniken beigebracht. Ich konnte kein Feuer machen, ich konnte nicht jagen, ich könnte mich nicht gegen diesen Mann zur Wehr setzen. Geht wieder zurück, hatte die Lehrerin einfach gesagt. Tut, was immer ihr tun müsst, um zur Schule zurückzukommen.
    Die Tür wurde aufgestoßen. Ich erwartete, dass er hereinstürmen und mich schreiend ins Freie zerren würde. Doch als Licht durch die längliche Hütte
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