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Esel

Esel

Titel: Esel
Autoren: Michael Gantenberg
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scheint, als könne er auf diese Art weitere Informationen sammeln. Die Zeit läuft wieder. Eine neue Zeitrechnung.
    »Ich meine es ernst, wenn du willst, kannst du los.«
    Ich konnte es, jetzt ist er dran. Er hat keine Karin, die ihm das möglich macht. Ich bin seine Karin.
    Friedhelm furzt – das ist die Aufregung. Wenn ich vor wichtigen Entscheidungen stehe, habe ich auch dieses Magenrumpeln.
    »Was ist. Ab! Los! Hüa! Hüa! Hüa! Ab!«
    Ich klatsche in die Hände, wie ich es in unzähligen Fury-Filmen gesehen habe, wenn der kleine Junge sich von seinem stolzen Hengst trennen muss, weil Papa das Geld braucht. Ich habe diese Szenen gehasst, weil ich sie nicht verstanden habe. Für manche Dinge muss man reifen, um sie zu verstehen. Manch einem gelingt es nie. Und manch einer braucht einen gewaltigen Schubs in die richtige Richtung, um sie zu verstehen.
    Friedhelm wird nervös, er furzt in immer kürzer werdenden Intervallen. Er scheint tatsächlich zu begreifen, welche einmalige Gelegenheit sich ihm da bietet. Ein Leben in Freiheit, ein Leben ohne Lehrer und Selbstverwirklicher, ein Leben ohne Sabine, Markus und all die anderen, die die unterschiedlichsten Motive und Beweggründe haben, mit ihm durch die Uckermark zu marschieren, um anschließend ein halbes Jahr davon zu erzählen.
    Friedhelm rührt sich nicht von der Stelle. Vielleicht traut er mir nicht. Ich gehe auf ihn zu, mit den Händen klatschend. Ein Fehler.
    Ein Pferd würde jetzt auf der Stelle wegrennen. Ein Esel macht das Gegenteil. Er bleibt stehen. Ich erinnere mich an eine Geschichte, die ich mal über Esel gelesen habe, in ihr wird diese Situation genau beschrieben.
    Es ist besser, nicht zu klatschen, wenn man einen Esel zur Flucht überreden will oder ihn nur antreiben möchte. Beim Fall der Mauer hatte das Klatschen Sinn. Oberst Marvin & Co. wollten die Freiheit und wurden durch das Klatschen nicht nur frenetisch begeistert, sondern auch ausgiebig motiviert, das Weite zu suchen, um es im Westen zu finden. Aber ein Esel hat damit nichts an den Ohren.
    Ich gehe langsam auf ihn zu. Für Friedhelm der pure Stress.
    »Ganz ruhig, ich will dir nichts. Ich will dir wirklich nichts.«
    Friedhelm furzt.
    Jetzt streichele ich sein Fell. Ich muss dabei über meinen Schatten springen, es stinkt fürchterlich. Die meisten Eselfürze sind geruchlos. Diese hier nicht. Es sind Stressfürze, die übelste Ansammlung von Schwefelgerüchen seit der Erfindung der Hölle und Eintöpfen aller Art.
    »Alles gut, mein Freund. Ich werde dir jetzt dein Halfter abnehmen, okay?«
    Friedhelm lässt es geschehen.
    »Und jetzt nehme ich dir die Taschen ab, okay?«
    Auch das lässt Friedhelm geschehen.
    »Jetzt die Decke, dann bist du frei!«
    Himmel, ich zittere jetzt auch. Ich schenke einem Lebewesen die Freiheit. Friedhelm bekommt von mir kein Abschlusszeugnis, sondern ein selbstbestimmtes Leben. Nicht mehr und nicht weniger.
    Ich fühle mich großartig dabei.
    Und jetzt, wo ich die Decke in der Hand halte, zittere ich.
    »Mach’s gut, Friedhelm.«
    Friedhelm furzt nicht mehr.
    Ich muss schlucken.
    Friedhelm richtet seine Ohren in meine Richtung.
    Ich schluchze.
    Friedhelm legt seinen Kopf auf meine rechte Schulter.
    Ich weine … hemmungslos. Friedhelm rührt sich keinen Zentimeter, und ich rieche seinen warmen Eselatem. So nah waren wir uns noch nie.
    Zwei Freunde in der Uckermark. Es ist kitschig, aber schön.
    Ich weine.
    Weine. Weine. Weine.
    Das ist es – das Glück! Zum Fassen nahe, auf meiner Schulter.
    Friedhelm!

41. Der erste Tag vom Rest meines Lebens – oder wie?
    »Und Sie sind sicher, dass Sie da hinwollen?«
    »Ich bin mir so was von sicher.«
    »Da ist nix los!«
    »Macht nix.«
    Als ob hier woanders etwas los wäre.
    »Ich fahr’ Sie auch nach Prenzlau oder Templin.«
    »Flieth-Stegelitz, ja?«
    »Sie zahlen, ich fahre. Kein Thema.«
    Flieth-Stegelitz ist nur 27 Kilometer von hier entfernt. Für den Fahrer scheint es am Ende der Welt zu sein. Er hat schon komisch geguckt, als ich ihm das Ziel meiner Fahrt genannt habe. Ich habe ihn auf dem Marktplatz in Pinzow angesprochen. Jetzt wirkt er noch weniger davon überzeugt, dass ich weiß, was ich tue.
    »Na ja, wenn Sie sich da so sicher sind, dann wollen wir mal.«
    »Ja, gerne.«
    »Ich heiße übrigens Paul.«
    »Björn.«
    Wir schütteln uns die Hände, während er mit der noch freien Hand den Wagen startet.
    »Eigentlich Paul-Elmar.«
    »Lustiger Name.«
    »Finden Sie?«
    »Schon.«
    »Na ja …
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