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Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Titel: Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
Autoren: Roger Willemsen
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ist sie für Parlamentarier gesperrt worden? Sind wir keine Menschen? Woher kommt das Wasser?«
    Und sie reden zum ersten Mal durcheinander:
    »Warum töten die Alliierten die Taliban und bekommen keine Strafe?« – »Die Menschen sind nicht schlecht, die Lebensbedingungen sind es.« – »Unsere größte Not ist unsere Uneinigkeit und unsere strategische Lage.« – »Die Truppen töteten gerade 28 Menschen, darunter zwei Taliban. Der Rest wurde hinterher zu Taliban umdeklariert.«
    Sie wissen auch das.
    Und ich denke an die jungen Studentinnen, die vor dem Fotografieren lieber den Raum verließen, an die kämpferische Dozentin, an die Fußballspielerinnen, die Verfassungsrichterin, die ich ehemals traf und die durchsetzte, dass in die Verfassung der Satz aufgenommen wurde: »Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, und das gilt auch für Frauen«, an Homeira Qaderi, ihren Kampf und ihre Theorie von der Unwandelbarkeit der Kultur, und nun stehe ich in dieser Klasse vor den nächsten Absolventinnen, der nächsten Generation, den kommenden, mündigen, »stark« genannten Frauen und Kämpferinnen, die es auch mit Teilen der afghanischen Kultur werden aufnehmen müssen.
    Und nicht weit weg von diesem Klassenzimmer bin ich wenig später wieder da, wo sich diese Kultur auch manifestiert, in einem Ältestenrat auf dem Land. Eine Lehrerin hatte gesagt, sie erziehe vor allem die alten Männer, damit sie es weitergäben und ihre Autorität sprechen ließen. Ja, sie berät die Alten selbst in Fragen der Familienplanung. Mit den Jungen allerdings sei es einfacher. Die Älteren dagegen hätten manchmal zehn Kinder und wollten immer noch nicht aufhören. Es gibt so viele Problemfelder.
    Wieder sitzen wir auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden und essen, die alten Graubärte mit ihren alttestamentarischen Gesichtern unter den weißen Käppis. Der Blick geht auf die Weinreben, die nicht am Stock hochgezogen, sondern als Busch wachsen, mit Früchten, die nicht gekeltert, sondern frisch verkauft oder im Schatten zu grünen, in der Sonne zu roten Rosinen getrocknet werden. Wir essen Kebab, Reis, Maulbeeren, Pistazienpudding. Diese Männer sind es, die ihre schützende Hand über die Schule halten, die den Unterricht fördern und auch ihre eigenen Mädchen in diese Klassen schicken.
    Der alte Gastgeber sagt:
    »Dieses Haus haben mehr Kugeln getroffen als Blätter sind an den Bäumen da draußen. Zweimal hat man uns ganz zusammengeschossen. Zweimal haben wir alles wieder aufgebaut. Euer Land ist schöner. Ich habe es heil gesehen auf Bildern. Wir aber haben dreißig Jahre Krieg hinter uns.« Er lässt seinen Blick durch die Runde gehen. »Sieh dich doch mal um«, er zeigt mit dem Finger, »der da war ein Krieger, der auch, mit dem da habe ich selbst gekämpft, sieh dir sein Auge an« – er trägt ein blaues Glasauge in seinem braunen Gesicht –, »den da kenne ich nicht. Wir waren 25 Mudschaheddin, heute sind wir noch zwei, und immer noch werde ich alles verteidigen, was meine Ehre ausmacht: Meine Frau, meine Familie, mein Haus, mein Land hier. Wir haben gearbeitet und doch kein Korn Reis gegessen, so viel wurde da draußen geschossen.«
    »Und heute setzen Sie Ihre Hoffnung auf die Jugend?«
    »Ach, sie haben doch nur Waffen gesehen. Die Regierung gibt ihnen keine Ausbildung, keine Arbeit. Aus Not habe ich meinen Sohn nach Indien geschickt zum Studieren. Ob er wirklich studiert? Ich weiß es nicht. Man sieht hier kleine Kinder, die sich ein Stück Holz schnappen und damit schießen. Es ist schrecklich. So verarbeiten sie den Krieg. Aus Pakistan kommen Kalaschnikows aus rosa Plastik ins Land. Sie sehen wie Spielzeug aus, doch die Kinder schießen damit, und man kann sein Auge verlieren.« Der mit dem Glasauge lacht. »Meine Tochter ist auf dem einen Auge verletzt worden von diesem Spielzeug. Der Krieg ist ein Geschäft mit vielen Gesichtern.«
    Und gleich sprechen auch sie von dem afghanischen, dem pakistanischen, dem amerikanischen Talib:
    »Es gibt den, der Geld nimmt, und den, der einfach so rumschießt. Es gibt den, der tags für die Amerikaner als Übersetzer arbeitet und nach Einbruch der Dunkelheit Talib ist. Es gibt alles. Nur frage ich: Wo sind denn die Überzeugungen? Was ist noch ernst?«
    Ein anderer fällt ein:
    »Und denken Sie: Es passiert jetzt so viel, und wir erfahren so wenig. Wer hat Osama getötet? Ist er tot? Wie bilden wir unsere Meinung? Ach, wir sind alle misstrauisch geworden.«
    »Und welches waren
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