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Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Titel: Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
Autoren: Roger Willemsen
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einzelner weißer Drachen auf. Man sieht ihn und denkt erleichtert: Da spielt jemand.
    Wir machen uns auf ins Pandschir-Tal, den berühmten Rückzugsort des Kommandanten Massoud, des Führers der Nordallianz im Kampf gegen die Taliban, dessen Bild man überall in Afghanistan begegnet. Ein Hoffnungsträger sei er gewesen, der das Land hätte retten können, sagen die einen. Ein Kommandant sei er gewesen wie andere, nur charismatischer, und viele Fehler habe auch er gemacht, wie die anderen.

    Und wieder sind wir auf der Straße, zwischen den Kindern mit ihren galoppierenden Eselsgespannen, den Nomaden mit ihren dünnen, staubigen Schafsherden, den uralten Greisen am Steuer der dahinrasenden Toyota Corolla, den Lastwagen mit Bildern von schnäbelnden Tauben, mit dem Emblem eines Dolches durch das Herz oder der deutschen Aufschrift »Jesuitenquelle« – vorbei an den grün beflaggten Märtyrer-Gräbern, dem geplünderten Panzerfriedhof, dessen Metall man nach Pakistan verkaufte, vorbei an Plakaten mit durchgestrichenem Mohn, vorbei auch am lokalen Gesundheitsministerium, das über die gesamte Länge der Fassade einen »Pepsi«-Schriftzug trägt, unterbrochen nur von der Botschaft, »es ist gut, wenn die kleinen Kinder Muttermilch bekommen«. Dann folgt »Trink Pepsi«. Also, was nun?
    Und dann liegt da plötzlich ein Hain mit Bachlauf und Obstbäumen und Rasenflächen, mit Vogelattrappen und polierten Schrott-Panzern, wie sie nur viele rutschende Hosenböden blank kriegen. Daneben spielen vier Kinder mit Murmeln vor einem zweiten ausgebrannten Panzer. Als wir uns nähern, erstarren sie, dann sagt ein Mädchen mit einer fatalistischen Bereitwilligkeit:
    »Ihr kommt, um uns zu schlagen.«
    »Warum sollten wir das tun?«
    Sie schweigen verlegen, und wir erfahren: Seit die Taliban alle Spiele verboten hatten, erwarten Kinder immer noch Strafen dafür.
    Unser Fahrer Nabil hat ehemals unter Kommandant Massoud gedient, der zwei Tage vor dem 11. September 2001 einem Taliban-Attentat zum Opfer fiel. Nabils Aufgabe war es, Nägel auf der Straße auszustreuen, um Massouds Tross die Flucht vor den Verfolgern zu erleichtern. Er kennt sich aus, in diesem Tal wurde er geboren. Massoud war einer der ihren, doch nennt Nabil ihn nicht beim Namen. Aus Respekt spricht er immer nur vom »Herrn Direktor« und besteht darauf, uns an sein Grab zu führen.
    Wir inhalieren den Duft des Regens, der auf die sonnenverbrannte Erde fällt, und passieren die Straßensperre am Eingang zum Pandschir-Tal.
    »Die Pandschiri lassen keine anderen Ethnien zu«, sagt Nabil.
    Deshalb gibt es auch keine Taliban in diesem Tal, vielmehr wurden sie früher hier als Gefangene gehalten. Ich sehe zwei Kinder mit einem Ochsen einen Passweg entlangschlendern.
    »Kann man in den Bergen überleben?«
    »Nein, das ist unmöglich. Wasser gibt es überall, aber du musst Mehl mitnehmen, damit kann man Brot backen in den öffentlichen Öfen, die sich hier überall finden. Oder man jagt Fasane, ganz hoch oben Leoparden, und in manchen Tälern wird man sogar auf Rehe treffen.«
    Außerdem lebt in diesen Bergen noch ein Tier, dessen Namen gerade keinem einfällt, es ist fett, hat fast keine Knochen, ist gut gegen Rheuma und wird mit der Kalaschnikow gejagt.
    Die Schlucht ist hier so eng, dass Massoud im Krieg die Felsen sprengen ließ, um seinen Verfolgern jeden Zugang zu versperren. Heute liegen an der einsamen Bergstraße nur zwei Restaurants einander gegenüber und bekämpfen sich wechselseitig mit ihrer Musik.
    Nabil, stolz auf seine Heimat, erzählt die Geschichte jeder neuen Schlucht, rekapituliert jede Katastrophe. Es ist ein karges Leben, das die Menschen hier führen. Der Boden ist arm, er ernährt nicht viele. Die Felder werden den Bergen abgetrotzt, den Fluss hat man eingedämmt, um Land zu gewinnen. Doch überall fehlt Arbeit. Die Jugend geht in die Stadt. Trotzdem ließ die Regierung ein riesiges Stadion bauen für Fußball, Basketball, Reiter-Turniere und hofft nun auf Prozente beim Eintritt. Niemand ringsum wird sich den Eintritt leisten können.
    Die Jungen fischen mit Netzen im Fluss, die Kinder binden sich leere Plastikflaschen um den Bauch und stürzen sich in den reißenden Lauf, oder sie treiben in Lastwagenschläuchen vorbei. Auf einem Teppich am äußersten Ende des Felsvorsprungs betet ein Junge gen Mekka. Auch sitzen die Apfel- und Pfirsichverkäufer zwischen ihren Geräten am Straßenrand. Manche schlafen, gleich neben ihrer kleinen Früchtehalde,
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