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Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Titel: Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
Autoren: Horst Bosetzky
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dem Kohlenplatz zu fahren. Er wohnte als Untermieter bei seinem Bruder in der Linienstraße und musste hinüber nach Moabit, in die Sickingenstraße.
    Im Jahre 1910 war Berlin vieles zugleich: Industriemetropole, Hauptstadt des Kaiserreichs und größte Mietskasernenstadt der Welt. In den Arbeitervierteln waren überfüllte und viel zu kleine Wohnungen die Regel. Großfamilien mit neun und mehr Kindern lebten in Wohnküchen. War etwas mehr Platz, suchte man sich Untermieter. Schlafburschen, die im Schichtdienst arbeiteten, teilten sich ein Bett. Viele hatten nicht genug zum Beißen.
    Als Dlugy die Invalidenstraße erreicht hatte und den Lehrter Bahnhof erblickte, kam ihm zum ersten Mal die Galle hoch. Er und seinesgleichen konnten sich kaum den Sonntagsausflug nach Werder leisten, und andere, die am Bahnhof ihre Koffer ausladen ließen, fuhren an die See. Ausbeuter! Und gegenüber in der Ulanen-Kaserne saßen diejenigen, denen die Herrschenden ihre Macht verdankten. Aber die Revolution war nahe, das fühlte er. Der Sturmwind würde sie alle hinwegfegen: den Kaiser, die Generale, die Kapitalisten. Er musste nur sehen, dass er sich dabei rechtzeitig hervortat. Er war nicht auf die Welt gekommen, um ein Leben lang Kohlenarbeiter zu bleiben.
    Gustav Dlugy wäre ein wunderbarer Herkules gewesen, wenn man in Berlin schon Filme gedreht hätte. So aber wurde ihm nur angeraten, ein zweiter Athlet Apollon zu werden. Der hatte im Reichshallentheater die Leute allabendlich mit seiner Nummer
    «Wegtragen eines Klaviers samt dem Pianisten» zu Begeisterungsstürmen hingerissen. Seine Muskelpakete hatte sich Dlugy aber nicht durch Hantel- und Expandertraining erworben, sondern durch das Schippen von Kohlen. Jahrelang war er zur See gefahren und hatte sich sein Geld als Heizer verdient. Oben an Deck waren die Reichen flaniert, hatten in den Salons diniert und sich im Tanze gewiegt, unten im Bauch des Schiffes hatte er in höllischer Hitze für einen Hungerlohn geschuftet. Kein Wunder, dass er sich, wieder in Deutschland, denen angeschlossen hatte, die die Welt verändern wollten.
    Geboren war Gustav Dlugy als vorletztes von acht Kindern im tiefsten Wedding, in der Ackerstraße. Sein Vater hatte bei der Reichsbahn als Gleisbauarbeiter angefangen und sich zum Rangierer hochgearbeitet. Oft war der kleine Gustav zum Stettiner Bahnhof gelaufen, um ihm zuzusehen, wie er zwischen die Puffer sprang, immer in Gefahr, zerquetscht zu werden. «Dann is sein Brustkorb nich mehr dicka als ’n Kartoffelpuffa», fürchtete die Mutter. «Du wirst ma uff keen Fall ooch Ranjiera.» Das würde er doch, hatte er entgegnet, denn er würde einmal so stark werden, dass er die beiden aufeinander zurollenden Waggons mit bloßen Händen aufhalten konnte. Und so hatte er Tag für Tag kräftig geübt. Dann aber hatten sie bei der Bahn keine Rangierer brauchen können, sondern Heizer für ihre Loks. So war Gustav Dlugy angelernt worden und hatte seinen Dienst auf den Schnellzugmaschinen versehen, die zwischen Berlin und der Ostsee unterwegs waren, der «Badewanne der Berliner».
    Die Schiffe im Stettiner Hafen hatten ihn nicht sonderlich interessiert, aber eines Tages war es zu einem heftigen Streit zwischen ihm und seinem Lokführer, dem Meister, gekommen, und als der ihn beleidigt hatte, war Dlugy die Hand ausgerutscht. Obwohl er nicht einmal richtig zugeschlagen hatte, war bei dem anderen ein Kieferbruch diagnostiziert worden. Daraufhin war Dlugy wegen gefährlicher Körperverletzung und eines tätlichen Angriffs auf einen Vorgesetzten für einige Monate ins Gefängnis gewandert, und nach seiner Zeit in Moabit hatte ihn die Reichsbahn nicht mehr haben wollen. Eigentlich wurde er in ganz Deutschland geächtet. Da entsann er sich wieder der Schiffe im Stettiner Hafen und konnte auch anheuern. Aber länger als vier Jahre hatte er die Sklaverei nicht ertragen können, und so war er wieder nach Berlin zurückgekommen, um hier als Kohlenarbeiter seine Brötchen zu verdienen.
    Als Dlugy in der Sickingenstraße angekommen war, hörte er seine Kollegen lautstark diskutierten. Er stellte sein Rad an die Mauer, lauschte kurz und begriff sofort, dass das seine große Chance war, sich zu profilieren und in seiner Gewerkschaft größeres Gewicht zu bekommen. Jetzt oder nie! Er sprang auf einen Handkarren und ergriff das Wort. «Lasst uns kämpfen, Kollegen!», schrie er. «Auch wenn es nur um Pfennige geht. Aber es sind die Pfennige, die uns bitter zum Leben fehlen - für
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