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Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Titel: Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
Autoren: Horst Bosetzky
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Charlottenburg wartete: die Suche nach dem Mann, der versucht hatte, ihn zu erschießen. In Gesprächen mit seinen Freunden nannte er ihn stets seinen Mörder. Auch ein Vierteljahr nach der Tat hatte man seiner noch nicht habhaft werden können. Was auch daran liegen mochte, dass er so aussah wie Hunderttausende anderer Männer auch. Das schlechte Licht und ein tief über das Gesicht gezogener Hut hatten verhindert, in seinem Gesicht besondere Merkmale zu entdecken. «Vielleicht wie ein Baby mit Bart», hatte Kappe gesagt. «Sehr weiche Züge also.» Alter: Mitte dreißig, Figur: eher schlank. Der Major meinte, von der Sprache her könne es nur ein Berliner gewesen sein. Und da man davon ausgehen konnte, dass der Verbrecher in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, hielt Kappe Tag für Tag die Augen offen. Das Argument von der Nadel im Heuhaufen schreckte ihn nicht. Es galt nur, an der richtigen Stelle hineinzugreifen.
    Der Zug kam in den Bahnhof gerollt und hielt mit quietschenden Bremsen. Die Abteiltüren wurden aufgerissen und krachten gegen ihre Anschläge. Kappe zuckte zusammen. So viel Lärm hatte es in Wendisch Rietz nicht einmal Silvester gegeben. Er lief die Waggons entlang und suchte nach einem freien Platz. In der dritten Klasse schien alles besetzt zu sein. Schon wurde «Zurückbleiben!» geschrien und wie wild gepfiffen, da schwang er sich aufs Trittbrett und enterte ein Abteil, in dem vier Herren und eine Dame saßen. Die Herren lasen allesamt den Berliner Lokal-Anzeiger , die Dame blickte pikiert. «Pardon», murmelte er denn auch, als er sich in die Lücke quetschte, die zwischen ihr und einem besonders dicken Mitreisenden verblieben war. Anders als in Storkow war es hier üblich, sich zu ignorieren. Der Zug setzte sich ruckend in Bewegung. Die Auspuffschläge der Lok ließen ihn um sein Gehör fürchten.
    Kappe nahm die Fahrt als Stadtbesichtigung. Er saß in Fahrtrichtung. Der erste Bahnhof hieß Börse, was er noch immer komisch fand. Wie Geldbörse. Immerhin wusste er schon, dass das Gotteshaus am Vorplatz die Garnisonkirche war. Folgten die Museumsinsel und die Universität. Bahnhof Friedrichstraße. Kappe staunte über die Menschenmenge, die sich hier versammelt hatte. Viele kamen nicht mit und schimpften fürchterlich. Der Zug war derart überfüllt, dass er Angst hatte, die Brücke über die Spree würde unter ihrer Last zusammenbrechen und sie allesamt würden in den Fluss stürzen und ertrinken. Gott sei Dank, alles war stabil genug. Als sie am Reichstag vorbeifuhren, ergriff ihn so etwas wie ein heiliger Schauder. Hier hatte Bismarck gestanden und geredet. Lange konnte er sich diesen hehren Gefühlen nicht hingeben, denn nun ging es über den Humboldt-Hafen hinweg. Er atmete auf, als sie im Lehrter Stadtbahnhof hielten und sozusagen wieder Boden unter den Füßen hatten.
    Dann kam Bellevue. Fast hätte Kappe das Aussteigen vergessen. Als er das Bahnhofsgebäude verlassen hatte, sah er sich erst einmal so hilflos um, wie es für einen Kriminalwachtmeister eigentlich beschämend war. In dieser Gegend war er noch nie gewesen, und er musste sich erst anhand der Sonne orientieren, wo denn Süden, Norden, Osten und Westen lagen. Moabit, das hatte er sich vorhin auf dem Stadtplan eingeprägt, musste im Nordwesten liegen, aber die Straße, auf der er stand, führte nach Nordosten. Jemanden nach dem Weg zu fragen widerstrebte ihm. Also ging er erst einmal Richtung Westen. Ein Schild verriet ihm, dass er sich auf der Flensburger Straße befand. Die war sehr schön, hatte aber den Nachteil, dass sie sozusagen im Nichts endete, das heißt am Ufer der Spree. Kappe wandte sich instinktiv nach rechts und kam zur Lessingbrücke und zur Stromstraße. Die grauen Wasser der Spree erinnerten ihn ein wenig an den Storkower Kanal, und er fragte sich, ob es hier in der Stadt noch Fische gab. Die Stromstraße fuhr eine Straßenbahn entlang, die ihn hoffen ließ, dass auf ihrem Zielschild der Name «Moabit» stehen würde, doch es war die Linie 3, und da hieß es nur «Großer Ring». Pech gehabt. Dann aber konnte er aufatmen, denn der breite Straßenzug, auf den er als Nächstes stieß, trug den Namen Alt-Moabit. Jetzt konnte er sich auch wieder daran erinnern, was er sich im Bureau eingeprägt hatte: Alt-Moabit, Thurm-, Bredow-, Wiclefstraße. Eine Viertelstunde später stand er auf dem Kohlenplatz von Gottfried Kockanz. Nirgends eine Menschenseele.
    «Ist hier niemand?», rief Kappe. Keine Antwort. Komisch.
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