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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Bildung, Medizin und Ballett und forderte von allen ein ordentliches, geregeltes Leben. Je nach Altersgruppe waren die Bürger in unterschiedlichen Vereinen organisiert, wo sie einen Schwur zu leisten und gut sichtbar Zugehörigkeitsabzeichen zu tragen hatten. Mit sieben wurde man ein Oktoberkind, bekam einen Stern mit einem molligen jungen Lenin darauf und schwor Fleiß und Disziplin, das hieß, nur gute Noten nach Hause zu bringen und in der Schulkantine immer alles aufzuessen, ohne den Inhalt des Tellers anzusehen.
    Mit dreizehn wechselten die Oktoberkinder zu den Pionieren. Sie bekamen ein rotes Halstuch umgewickelt,
das sie unter keinen Umständen abnehmen durften, bevor sie sechzehn Jahre alt waren. Die Pioniere schworen, den Schwachen zu helfen, Altpapier und Altmetall zu sammeln sowie Omas über die Straße zu helfen. Papier und Metall durften sie natürlich nicht auf eigene Faust sammeln, sondern nur an bestimmten Tagen und an speziell dafür eingerichteten Orten, wo die vorherige Pioniergeneration das ganze Zeug liegen gelassen hatte. Die Omas durften sie dagegen in Eigenregie über die Straße bringen. Alle diese Pflichten wurden ordentlich in entsprechenden Papieren registriert. Die genauen Zahlen habe ich nicht mehr im Kopf, aber ich glaube, zehn Omas pro Monat waren geplant, acht wurden geduldet. Deswegen lauerten die Pioniere oft am Ende des Monats an großen Kreuzungen, und so manche Oma musste gleich mehrmals hintereinander die Straße überqueren  – auch wenn sie gar nicht auf die andere Seite wollte. Die Opas warteten derweil an der Ampel.
    Wenn ein Pionier sich nicht an die Regeln hielt, wurde er aus dem Verein ausgeschlossen und zum Oktoberkind herabgestuft. Für so manche zarte junge Seele war das eine echte Tragödie. Die ausgewachsenen Pioniere dagegen wurden mit Erreichen der Volljährigkeit vom Halstuch befreit und zu Komsomolzen ernannt. So ging es immer weiter, bis unsere
Diktatur plötzlich kollabierte und Millionen alte und junge Pioniere quasi über Nacht aus der Pflicht entlassen wurden. Ein Schock. Die Omas hatten keine Angst mehr, über die Straße gezerrt zu werden, Altpapier und Metall wurden fortan von parteilosen Erwachsenen gesammelt und für teures Geld ins westliche Ausland verkauft, die roten Halstücher und Abzeichen erwarben amerikanische Touristen. Keine Seele weinte der Diktatur eine Träne nach. Auch die Jugendvereine vermisste niemand wirklich. Sie hatten unser Leben nur äußerlich geprägt, sie waren nichts weiter als ein Spiel mit dem Staat gewesen. Die wirklich ernsten, grundlegenden Dinge, die jeden Pionier und Komsomolzen beschäftigten, hatten nichts mit den staatlich organisierten Vereinen zu tun. Es waren die ewigen Fragen: Sehe ich gut aus? Warum hat der eine Freundin und ich nicht? Und wenn ich eine hätte, wo würde ich mit ihr hingehen?
    Im Sozialismus wohnten die Menschen eng zusammen, nur selten hatte jemand eine elternfreie Bude zur Verfügung. Ich weiß noch, wie meine Eltern am 19. April 1982 für eine Woche ans Schwarze Meer fuhren und mir zum ersten Mal die Wohnung allein überließen. Ich durchlebte gerade eine schwierige Phase. Zwar trug ich schon einen Schnurrbart, war also kein Jungpionier mehr, aber noch immer Jungfrau.
Jeden Tag ging ich jetzt voller Hoffnung in der Stadt spazieren; ich ging ins Kino, ich ging in den Park, ich ging sogar in den Zoo. Dabei lächelte ich unbekannten Gleichaltrigen zu und signalisierte ihnen: elternfreie Bude. Ich hatte das Gefühl, in dieser Woche würde etwas sehr Wichtiges passieren, es passierte aber nichts. Am vorletzten Tag meiner Freiheit rief mich Alexander an, ein ehemaliger Mitschüler, der in unserer Klasse als Macho und Mädchenschwarm galt.
    »Ich habe zwei Superschnecken aufgerissen, wir fahren jetzt zu dir«, gluckste er in den Hörer.
    »Hast du Geld? Kannst du etwas zu trinken kaufen? Etwas zu essen wäre auch nicht schlecht«, ergänzte eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund.
    Ich nahm das ganze Geld, das ich besaß, und rannte damit in ein Geschäft. Dort kam ich ins Grübeln. Ich wusste nicht, was Superschnecken gerne trinken und essen. Für alle Fälle kaufte ich alles, was irgendwie verführerisch wirkte: eine Sahnecremetorte »Schneewittchen«, Schmelzkäse, fünf Büchsen Sprotten, Bier, Wodka und drei Flaschen süßen Portwein. Zu Hause packte ich das Ganze auf dem Küchentisch aus, zog mir ein sauberes T-Shirt an und wartete. Dreißig Minuten später kam Alexander mit zwei Mädchen.
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