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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Die eine hieß Vika, sie war sehr groß und dick, die andere
hieß Julia und war genau das Gegenteil: sehr klein und dünn. Wir saßen in der Küche am offenen Fenster. Die Mädchen aßen schweigend die »Schneewittchen«-Torte  – mit einem Gesicht, als hätten sie nur wegen dieser Torte den weiten Weg auf sich genommen. Mich würdigten sie keines Blickes. Ich konnte nichts essen, deswegen trank ich nur. Schnell war alles, was ich für die Party eingekauft hatte, vernichtet. Die Mädchen gingen auf den Balkon, um eine zu rauchen.
    »Welche willst du?«, fragte mich Alexander.
    »Mir egal, ich überlasse dir die Wahl«, sagte ich, kam dann aber doch ins Grübeln.
    »Na gut, in Ordnung«, unterbrach Alexander meine Gedanken, »ich sehe schon, du stehst auf die Große, kann ich verstehen.«
    Kaum hatte ich Luft geholt, um ihm zu widersprechen, war er schon in Richtung Balkon verschwunden.
    Eine halbe Stunde später saß die dünne Julia bereits auf dem Sofa. Alexander flüsterte ihr irgendwas ins Ohr, aber sie reagierte nicht. Die lange Vika hockte auf dem Fensterbrett in der Küche und spuckte aus dem Fenster. Ich stand neben ihr und fühlte mich wie ein Vollidiot.
    »Es wird heute bestimmt noch regnen«, meinte Vika.

    »Ja«, bestätigte ich.
    »Hast du noch etwas zu trinken?«, fragte sie.
    Ich suchte nach einem Flaschenöffner für den Wein.
    »Echte Männer machen das anders«, meinte Alexander und versuchte, der Flasche mit einem Küchenmesser den Hals abzuschlagen. Es ging daneben, und eine große Portweinpfütze bildete sich auf dem Boden. Ich plünderte die Alkoholreserven meines Vaters. Julia verkündete laut, es gehe ihr schlecht, sie müsse sofort ein Bad nehmen.
    »Ich komme mit«, japste Alexander und lief hinter ihr her in Richtung Badezimmer.
    »Ich will nach Hause, ich bin müde«, sagte Vika und ging ihren Mantel suchen. Im Korridor lehnte sie sich an den Schuhschrank, der sofort zusammenklappte und auseinanderfiel. Vika zog ihren Mantel an, setzte sich auf den Boden und schlief ein. Ich setzte mich daneben und überlegte heftig, wie ich die Sache mit dem Schuhschrank meinen Eltern plausibel machen könnte. Die einzige Lösung, die mir in den Sinn kam, war, den Schuhschrank ganz verschwinden zu lassen, das heißt ihn auseinanderzunehmen und in kleinen Stücken vom Balkon zu werfen. Dann konnte ich meinen Eltern gegenüber behaupten, einen Schuhschrank im Korridor habe es in Wirklichkeit nie gegeben.

    Die große Vika wachte auf und half mir beim Schuhschrank-Auseinandernehmen und Runterwerfen. Danach verteilten wir die vierzig Paar Schuhe aus dem Schrank gleichmäßig in der Wohnung.
    Aus dem Bad hörte man Wasserplätschern und Geheul. Die Tür war von innen verschlossen. Als meine Aufforderungen, die Tür zu öffnen, ohne Antwort blieben, bat ich meine große Freundin, die Tür aufzubrechen. Sie tat das mit Freude. Gleich beim ersten Anlauf brach die Tür in der Mitte durch. Ein Bild des Grauens bot sich unseren Augen: Die Reste der Sahnecremetorte »Schneewittchen«, mit Sprotten, Schmelzkäse, Schwarzbrot und Bier vermischt, schwammen in der Badewanne. Mittendrin saß Alexander, vollständig angezogen mit geschlossenen Augen. Julia begoss ihn mit der Dusche und sang dabei ein mir unbekanntes, sehr trauriges Lied. Mir kamen die Tränen.
    »Vielen Dank, dass ihr alle zu mir gekommen seid«, sagte ich und umarmte alle nassen und trockenen Anwesenden. Dann hatte ich einen Filmriss, das heißt, ich weiß nicht, ob und wenn ja, wann und wie sie die Wohnung verlassen haben.
    Am nächsten Tag kamen meine Eltern braungebrannt und glücklich vom Schwarzen Meer zurück. Aber kaum hatten sie die Wohnung betreten,
wurden sie wieder blass. Am nächsten, übernächsten und überübernächsten Tag sammelte ich zusammen mit meinem Vater die Schuhschrankteile im Hof ein, reparierte die Tür, wischte alles auf und wusch ab.
    Eine Woche später meldete sich Alexander: »Ich habe zwei geile Schnitten aufgegabelt, unglaublich scharf, wir fahren jetzt zu dir, kannst du …« Ich legte schnell auf.

Der Schnee des vorigen Jahrhunderts
    Das Verhältnis von Raum und Zeit war im vorigen Jahrhundert ziemlich eigenartig. Man vergeudete viel Zeit in kleinen Räumen, die mit großen Sachen vollgestellt waren. Vor allem aus den Sechzigern und den Siebzigern sind mir fast nur sperrige Dinge in Erinnerung geblieben. Der Küchentisch in unserer kleinen Wohnung zum Beispiel war so groß, dass ich mich unter ihm frei bewegen
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