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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel
Autoren: Heinz G. Konsalik
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grellgeschminkte Huren hoben ihre Röcke und riefen obszöne Dinge hinter der Ballettmeisterin und ihrer Begleitung her, und nur vier Polizisten konnten schließlich verhindern, daß man die Kutsche nicht anhielt, die Pferde ausspannte, gleich auf der Straße abstach und den hochherrschaftlichen Inhalt ausraubte und verprügelte.
    Mit ungläubigen Augen schaute die Jegorowna der tanzenden Kleinen mit den langen schwarzen Locken zu. »Das ist ein Wunder!« urteilte sie. »Ein Wunder tanzt auf dem Markt wie ein dressierter Bär! Sehen Sie nur die Bewegungen, Kyrill Iwanowitsch! Die Haltung der Hände – Musik bis in die Fingerspitzen! Wie die Kleine die Beinchen setzt! O Himmel, wie sie schon springen kann! Und so etwas verkümmert in dieser Hölle? Ich muß mit ihr sprehen, ich muß ihre Mutter sehen! Hier wird ein unendlich kostbarer Schatz verschleudert!«
    Die Erfüllung dieses Wunsches war äußerst schwer. In Begleitung von zwei Polizisten drängte sich schließlich Husarenrittmeister Fürst Kyrill Iwanowitsch Trobetzkoj durch die gaffende Menge, während der andere Offizier und zwei Polizisten zum Schutz der Kutsche zurückblieben. Die Jegorowna hatte sich neben den Kutscher auf den Bock geschwungen, um über die Köpfe der Menschen hinweg dem Tanz zuzuschauen.
    »Wer will sie sprechen?« fragte Rosalia Antonowna grob. Sie musterte den Husarenrittmeister mit deutlicher Verachtung und wandte sich an die ihr bekannten Polizisten. »Schämt euch!« rief sie. »Neun Jahre ist sie erst, meine Kleine, und ihr wollt sie schon verkuppeln? Als Hure? Ha, welch eine Bande von Polizei! Kommt da ein vornehmes Herrchen, sieht meine Matilda, bekommt Appetit auf sie – und was macht unsere Polizei? Sie spielt den Kuppler! Bei Gott, hindert mich nicht daran, dem hochwohlgeborenen Offizier …«
    »Es ist der Fürst Trobetzkoj!« unterbrach sie der Polizeisergeant flüsternd und bekam einen hochroten Kopf. »Rosalia Antonowna, hört doch erst einmal zu …«
    »Und wenn es der Zar selbst wäre – sie ist noch ein Kind!«
    »Er kommt doch nur im Auftrag der Jegorowna«, sagte der Polizist gepreßt. Er schämte sich, daß ein leiblicher Fürst soviel Unrat ansehen und anhören mußte.
    »Wer ist die Jegorowna?« brüllte Rosalia sofort zurück. Sie stemmte die Hände in die sehr rundlich gewordenen Hüften und drehte sich im Kreis. »Wer kennt hier die Jegorowna? He? Wer kennt das Hurenhaus der Jegorowna? Holt sich Kinder von der Straße zur Lust der feinen Herrchen!«
    »Gehen wir!« sagte Trobetzkoj steif. »Das ist widerlich. Unbegreiflich, was aus Menschen werden kann …«
    In diesem Augenblick betrat Tamara Jegorowna den Kreis. Mit ihrem großen Straußenfederhut und in dem langen seidenen, bestickten Kleid hockte sie sich vor Matilda in den Dreck und starrte ihr in das schmale, vom Tanz schweißnasse Gesicht. Große, tiefbraune Augen erwiderten ihren Blick. Augen, die älter waren als neun Jahre, voll von einem Ernst, der weit in die Zukunft, in das große Unbekannte wies.
    Die Jegorowna wurde von diesem Blick gefangen, nahm aus dem Ausschnitt ihres Kleides ein parfümiertes Spitzentüchlein und wischte dem Kind den Schweiß vom Gesicht. Die Kleine machte sich steif, als versuche jemand, sie umzuwerfen, und als die Jegorowna ihr Tüchlein zurückzog, sagte das Kind:
    »Wie das stinkt! Hast du das gern?«
    »Lassen Sie mein Kind in Ruhe!« schrie Rosalia Antonowna dazwischen. »Komm her, mein Schwänchen, komm sofort her! Jawohl, sie stinkt! Merk dir den Geruch … es ist die Ausdünstung der Ausbeuter!«
    »Wie heißt du?« fragte Tamara Jegorowna ruhig. Sie blieb vor dem Kind hocken und war froh, daß zwischen ihr und der Mutter die Polizisten eine lebende Mauer bildeten.
    Aus der Volksmenge drang unwilliges Gemurmel. Sie wagte nicht, sich umzublicken. Es war eine Szene wie aus einem Höllenstück.
    »Matilda Felixowna …«, antwortete die Kleine. »Und du?«
    »Tamara Jegorowna. Ich bin Tänzerin.«
    »Wie schön!« sagte Matilda. »Auf welchem Markt tanzt du denn?«
    »Ich tanze in der Oper.«
    »Was ist das, Oper?«
    »Ein großes, festliches Haus mit einer Bühne und einem Orchester und vielen Musikern, und wenn man tanzt, zieht man prunkvolle Kostüme an, und der Zar sitzt in der Loge, die Zarin, alle Großfürsten und Großfürstinnen, die Fürsten und Grafen, die Offiziere, die Minister … Tausend Kerzen brennen, und wenn du fertig bist mit Tanzen, jubeln sie dir zu, bringen dir große Blumensträuße, laden
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