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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Verwundeten klatschten begeistert, aber was sie wirklich dachten … Einmal sagte es ihr ein junger Oberleutnant im Lazarett von Pawlowsk:
    »Wir freuen uns sehr, daß Sie für uns tanzen, aber lieber wäre es uns gewesen, Sie hätten uns einen Wagen voller Brot, Marmelade und Gemüse mitgebracht. Von einem Stückchen Fleisch träumen wir nur noch. Reden wir nicht davon, aber ein Stück Brot – das wäre schöner als der schönste Schwanensee …«
    Den Zaren sah Matilda nur noch selten.
    Nachdem er seinem Onkel Nikolai Nikolajewitsch den Oberbefehl über die russischen Truppen entzogen und sich selbst an die Spitze seiner Armeen gestellt hatte, riß die Verbindung völlig ab.
    Zar Nikolaus II. lebte von nun an nur noch in seinem Hauptquartier bei Mogilew. Auch das hatte er nie gewollt, aber die Zarin drängte ihn dazu. Sie sah ihren Niki als den genialen Feldherrn, der Rußland retten würde.
    Immer stärker machte sich der Einfluß des Wundermönches Rasputin bemerkbar, ohne den die Zarin nicht mehr leben konnte, seitdem es ihm gelungen war, durch Handauflegen den kleinen Zarewitsch vom Tode zu erretten. Das verhängnisvolle Erbe der englischen Königin Victoria schlug wieder bei dem Thronerben durch: Er war Bluter.
    Matilda lebte zurückgezogen im Stroitskypalais. Der Zwerg Mustin war nach dem Tod von Rosalia Antonowna sehr still geworden, saß oft stundenlang am Grab der Bondarewa und begann dort, auf einer weißen Holzbank hockend, seine Memoiren zu schreiben. ›Blick von unten – Betrachtungen eines Zwerges‹, nannte er sein Buch. Und unter den Titel schrieb er die Widmung: ›Für Rosalia Antonowna – vielleicht der einzige Mensch, der mich je verstand‹.
    Nach der verlorenen Schlacht bei Tannenberg und an den Masurischen Seen war Chamitja Maximowitsch Aronow aus St. Petersburg verschwunden. Er hinterließ für Matilda einen kurzen Brief:
    »Rußland ist dabei, langsam, aber sicher zu sterben. Vergiß meine Worte nicht: In Kürze werden die Bolschewiki die Herrschaft übernehmen und alles ausrotten, was so aussieht wie Du und ich! Das Waschwasser der Revolution ist immer Blut … anders wäre eine Säuberung nicht möglich. Aber soll ich mich umbringen lassen, weil ich mein ganzes Leben lang fleißig war und gespart habe? Ich werde versuchen, Tanger zu erreichen. Dort habe ich einen Freund, den Sheikh Omar Abduman ibn Rahndan. Bei ihm bleibe ich, bis der Krieg zu Ende ist. Dann werde ich in Paris leben. Glaube mir, Matilduschka: Außer in Rußland kann ein Russe nur noch in Paris leben! Warum? Ich weiß es nicht. Man muß das spüren, es klopft im Blut. Gott möge so gnädig sein, daß wir uns in Paris wiedersehen …«
    »Dieser Krieg zerschlägt eine alte Zeit –«, sagte auch Mustin, als Matilda durch gute Freunde im Generalstab erfuhr, daß Nikolaus II. sich als Oberbefehlshaber der Truppen geradezu unglücklich fühlte und sich selbst ein ›Sühneopfer für Rußland‹ nannte. »Und die neue Zeit steht vor der Tür. Sie wird mit Terror beginnen. Willst du nicht vorher Rußland verlassen?«
    »Nein! Verläßt der Zar es?«
    »Das wäre undenkbar!«
    »Und bei mir kannst du es denken? – Schweigen wir davon.«
    Je länger der Krieg dauerte, je mehr an den Fronten gestorben wurde, je mehr die Verwundeten und die Sterbenden die Krankenhäuser und Lazarette füllten und man selbst schon Schulen ausräumte, um die Verletzten unterzubringen, um so mehr war Matilda Felixowna unterwegs.
    Die ›Primaballerina assoluta‹ tanzte fast nur noch für die Verwundeten.
    Ab und zu allerdings fand in St. Petersburg auch noch eine Aufführung statt. Dann war es geradezu gespenstisch anzusehen, wie der Adel und die reiche Gesellschaft den Krieg ignorierten.
    Da funkelten noch Brillanten und Edelsteine, da rauschten noch die Seidenroben der Damen, da blitzten noch die Orden und strahlten die Uniformen …
    Wie ein letzter Rausch hatte es alle erfaßt, noch einmal die ganze ungeheure Pracht des Zarenreichs zu entfalten, noch einmal – ehe alles zusammenbrechen mußte.
    Und dann – von allen insgeheim erwartet – geschah es: In den Morgenstunden des 23. Februar 1917 zog ein langer Zug demonstrierender Frauen durch St. Petersburg. In Sprechchören erschallte: »Gebt uns Brot! Nieder mit dem Krieg! Frieden! Frieden!«
    Die Polizeiketten, die das Winterpalais abschirmten, wurden überrannt.
    Die Winterkälte war in diesem Jahr besonders hart. In Petersburg wurden 40 Grad Frost gemessen; es gab kaum Kohle oder Holz zum
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