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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel
Autoren: Heinz G. Konsalik
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und stimmten die Nationalhymne an. Das ewige Rußland war plötzlich wieder da … ob im Mittelalter oder in der Neuzeit: Ein Volk kniet vor dem Zaren.
    Und die Zarin weinte vor Ergriffenheit.
    Während Matilda sich im Stroitskypalais von der langen Reise erholte und Mustin mit Chamitja in Streit geriet, weil der Zwerg ihm vorwarf, er hätte Matilda im Ausland lassen sollen, meldete sich Boris Davidowitsch beim Oberkommandierenden der russischen Streitkräfte, Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, dem zwei Meter langen Onkel des Zaren.
    Er bekam ihn nicht zu Gesicht … die erste große Offensive war bereits im Aufmarsch, der Generalstab tagte Nacht und Tag. Dafür umarmte ihn ein bekannter General, küßte ihn auf die Wangen und sagte:
    »Borja, daß du gekommen bist, beweist mir, daß du ein Russe bist, auch wenn du Soerenberg heißt! Du rückst schon in vier Tagen an die Front. Wir haben dich der Narew-Armee von General Samsonow zugeteilt. Du wirst einer der Helden sein, der die Deutschen aus Ostpreußen vertreibt! Wir nehmen sie in die Zange! Am Narew die Samsonow-Armee, am Njemen die Rennenkampff-Armee! Da gibt es kein Entkommen! Treibt die Deutschen in die Ostsee! Unser Gegner ist schwach. Die achte deutsche Armee, Befehlshaber von Hindenburg. Wer kennt schon von Hindenburg? Der Generalstabschef ist ein von Ludendorff. Völlig unbedeutend. Es wird für euch ein Spaziergang werden!«
    Von diesem ›Spaziergang‹ kehrte Boris Davidowitsch von Soerenberg nicht zurück. Der Splitter einer deutschen Granate riß ihm am 29. August 1914 in der Schlacht bei Tannenberg, als die russischen Armeen schon geschlagen waren und der Rest, der sich vor der Gefangenschaft retten konnte, über die Grenzen Ostpreußens zurückflutete, den linken Arm ab.
    Hilflos, am Straßenrand sitzend, die rechte Hand auf den zerfetzten Arm gepreßt, verblutete er.
    Er verspürte kaum Schmerzen, sein Hirn war klar wie immer, und er dachte, bis ihn die große Müdigkeit der Ewigkeit überkam, immer nur an Matilda und ihre letzten Worte.
    Sie hatte sie ihm zugerufen, als der Waggon aus dem Güterbahnhof von St. Petersburg abfuhr und sie neben dem Zug herlief, winkend, mit einem Blumenstrauß in der Hand: »Wenn du zurückkommst, Borja, heiraten wir!« hatte sie gerufen. »Paß auf dich auf! Wir werden heiraten, bestimmt, Borja, wenn die Deutschen besiegt sind …«
    Wenn …
    Dann war der Zug schneller gefahren, sie war zurückgeblieben, die anderen Waggons mit den singenden Soldaten ratterten an ihr vorbei … Und er hatte sich aus dem Fenster gelehnt und immer noch gewunken, gewunken, bis sie im Dunst von Morgennebel und Lokomotivrauch verschwand, eine kleine schmale Gestalt, die für ihn der Sinn allen Lebens geworden war.
    Der Rückzug der russischen Truppen ging so hastig vor sich, daß man den toten Oberst Soerenberg nicht mitnehmen oder gar begraben konnte. Deutsche Pioniere sammelten später die russischen Toten ein und legten sie in ein Massengrab. Die Offiziere, also auch Borja, erhielten Einzelgräber, aber da man seinen Namen nicht wußte – die Papiere hatten die Russen mitgenommen – schrieb man auf das einfache Kreuz aus Birkenholz: ›Ein unbekannter russischer Oberst‹.
    Matilda Felixowna nahm den Tod von Boris Davidowitsch mit unbewegtem Gesicht auf. Der Generaladjutant des Zaren kam selbst und überbrachte ihr die Nachricht mit einem Handschreiben des Zaren.
    Nikolaus II. schrieb:
    »Ich fühle Deinen Schmerz auch in meinem Herzen. Es ist furchtbar, wie mein Volk leiden muß, schon in den ersten Wochen dieses Krieges, den ich nie gewollt habe. Gott ist mein Zeuge, daß man mich in diesen Krieg hineingetrieben hat. Verzeih mir, Matilda. – Niki.«
    Siege und Niederlagen wechselten ab, und man gewöhnte sich in Rußland daran, daß auf einen toten Gegner fast immer zehn Russen kamen. Man hatte ja Menschen genug, und die Strategie hieß nun einmal die ›russische Dampfwalze‹, dieser wahnsinnige Menscheneinsatz, das Angreifen in zehn, zwölf, fünfzehn Wellen hintereinander mit der trügerischen Hoffnung, daß der Gegner gar nicht so viel schießen konnte, wie Menschen auf ihn zustürmten.
    In St. Petersburg aber gingen die hohen Herrschaften weiter in die Oper, ins Ballett oder Konzert.
    Matilda Felixowna tanzte – nicht nur vor dem Zaren, auch vor den Verwundeten in den Lazaretten. Fast jeden Tag trat sie auf, mit Szenen aus ihren berühmten Balletten oder mit Volkstänzen der verschiedenen russischen Völkerstämme.
    Die
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