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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zerteilte einen Bratapfel mit Honigsauce. »Aber daß du so etwas sagst … in einem Palais!«
    »Ich schäme mich auch, in einem Palais zu sitzen!«
    »Hast du dafür nicht ein ganzes Leben geopfert? Wie hast du Matilda großgezogen? Gab es eine Stunde Ruhe für dich? Hast du nicht auf dem Markt hinter deinem Stand gesessen, bei Regen und Sturm, bei Hitze und Frost? Hast du nicht mehr gearbeitet als die meisten, die heute von Revolution reden? Du hast dir jede Kopeke ehrlich verdient … Und jetzt schämst du dich, daß du sie verdient hast?«
    »Wenn man es so nimmt …«, sagte die Bondarewa gedehnt.
    Bei ihrem nächsten Besuch bei Minajew brachte sie eine Kohlsuppe mit, die mehr aus Wasser als aus Kohl bestand.
    Minajew schnupperte aus dem Topf, steckte den Finger hinein, leckte ihn ab und blickte Rosalia Antonowna entgeistert an.
    »Ich habe kein Schweinchen, das ich großfüttere!« sagte er.
    Welch ein Fehler war das!
    Die Bondarewa brüllte, sie sei zur Armut zurückgekehrt, und von solchen Suppen habe sie zwanzig Jahre lang gelebt – und lebe noch! – und jetzt sei sie Bolschewikin und esse nur noch das, was das arme Volk sich auch leisten könne – und dann tauchte sie Minajews Kopf in den Suppentopf und zwang ihn, alles auszuschlürfen!
    Der arme Alte war nach dieser Volksmahlzeit so erledigt, daß er auf dem Sofa im Hinterzimmer lag und nicht mehr schnaufen konnte. Rosalia deckte ihn mit seiner roten Fahne zu, hob die Faust und schrie:
    »Die Arbeiterklasse wird siegen!«
    Damit verließ sie den augenrollenden Minajew.
    Vier Wochen später war er tot.
    Der Arzt stellte einen Blutsturz fest und wunderte sich, daß Tichon Benjaminowitsch mit einer solch zerstörten Lunge noch so lange gelebt hatte. Die Bondarewa ließ ihn wie einen Hochwohlgeborenen begraben, in einem geschnitzten Sarg, mit einer schwarzen Kutsche und zwei Rappen davor. Ein Pope hielt die Trauerrede und nannte Minajew eine große Seele. Dafür bekam er eine Stiftung von 250 Rubel für seine Kirche.
    So ging die Zeit dahin.
    Matilda tanzte nicht nur in St. Petersburg als Primaballerina assoluta, – sie fuhr durch die ganze Welt, von den Männern angebetet, von den Frauen beneidet, von den Kolleginnen gehaßt ob ihrer Erfolge; in jedem Ort, wo sie tanzte, mit Blumen und Geschenken überhäuft.
    Chamitja Maximowitsch Aronow, der Impresario, zerknitterte immer mehr, je mehr er an Matilda verdiente. Die Prozente, die er von den Höchstgagen für sich abzog, machten ihn reich, aber auch immer mürrischer. Selbst als er in Monte Carlo zu spielen begann, verfolgte ihn sein Fluch: Er gewann immer!
    Die Verbindung zwischen Matilda und dem Zaren war abgerissen. Es kamen keine Boten mehr mit Briefchen oder Nachrichten, keine Blumenarrangements oder Geschenkkartons. Man sah sich nur noch im Theater …
    Nikolaus II. in der Kaiserloge, ernst, in sich gekehrt, verschlossen, von Monat zu Monat zu seiner Umwelt kontaktärmer … Matilda Felixowna auf der Bühne, strahlend schön, schwerelos im Tanz, umjubelt, der hellste Stern über St. Petersburg.
    Sie tanzte unter der Leitung des großen Petipa alle großen Rollen in den Balletten Coppelia, Giselle, Dornröschen, La Bajadere, Raymonda, Le Corsaire, La Sylphide und immer wieder … Schwanensee.
    Über die Entfernung von Loge zu Bühne hinweg sahen sie sich an, wenn der Beifall aufrauschte … dann stand der Zar an der Brüstung und klatschte, neben sich die schöne Zarin; und Matilda verneigte sich tief, wie es dem Herrscherpaar gebührte. Manchmal dachte Matilda: Niki sieht nicht glücklich aus. Du müßtest doch strahlen vor Glück. Drei Töchter hast du jetzt: Olga, Tatjana und Maria. Und die Zarin ist schon wieder schwanger. Warum siehst du mich mit deinen Rehaugen so melancholisch an? Ich weiß doch, daß du Alexandra Fjodorowna liebst! Denkst du an früher? Der Zarewitsch und die kleine Tänzerin? Es war eine schöne Zeit.
    Ein Kapitel in unserem Lebensbuch: Das Märchen von St. Petersburg …
    Als die vierte Tochter des Zaren geboren wurde, die den Namen Anastasija erhielt, war es um den Zwerg Urasalin geschehen. Er kam ins Stroitskypalais, setzte sich auf seinen Lieblingsplatz, das Sofa im Damensalon, und baumelte mit den Beinen. Rosalia Antonowna, sehr dünn geworden und noch immer im Kampf mit ihrem ›nervösen Magen‹, sah ihn fragend an.
    »Was ist?« Auch ihre donnernde, gefürchtete Stimme hatte nachgelassen. Sie klang jetzt müder, gütiger und wie aus einer hohlen Tiefe. »Soll ich
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