Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Ich bitte Dich, kehre bald an die Riviera zurück. Mache einen weiten Bogen um Rußland. Ich habe Angst um Dich und Deine Sicherheit. Ich sehe Dich noch immer unter dem roten Segel entschwinden …«
    Wortlos reichte Matilda den Brief an Boris weiter, als er in die Garderobe kam. Er las ihn, gab ihn zurück und fragte mit heiserer Stimme:
    »Was nun?«
    »Ich bin eine Russin«, antwortete Matilda fest. »Eine Russin, wie Millionen andere auch. Ich bleibe in St. Petersburg, wie Millionen andere auch. Ich bleibe in St. Petersburg!«

XVI
    Matilda Felixownas Entscheidung schien richtig zu sein, eine Revolution fand nicht statt.
    Aber die Ruhe war trügerisch.
    Immer mehr und immer lauter wurde von den Bolschewiki geredet, einer radikalen Gruppe, die von einem gewissen Lenin geführt wurde, der später im Exil in Zürich saß und von dort aus alles dirigierte.
    Parteitage fanden in Brüssel oder London statt; Aufrufe durch geheimnisvolle Kanäle nach Rußland eingeschmuggelt, riefen das Volk zum Widerstand gegen den herrschenden Adel und die Großgrundbesitzer auf.
    In den Armenvierteln der Städte tauchten immer häufiger Agitatoren auf, selbst bei Familienfeiern wehten rote Fahnen, auf den Märkten standen die Menschen zusammen und hörten gespannt zu, was man ihnen versprach:
    Jeder soll genug zu essen haben. Das Land wird an die Bauern verteilt. Die Reichen werden entmachtet. Die Monarchie wird abgeschafft, es wird eine Volksregierung geben …
    »Eigentlich haben sie recht!« meinte Rosalia Antonowna, die ab und zu noch ihren alten Freund, den Trödler Tichon Benjaminowitsch Minajew besuchte. Die Krasnogarygasse hatte sich nicht verändert, die gleichen Galgenvogelgesichter liefen noch dort herum – allein Minajew war zusammengeschrumpft, saß auf einem Hocker hinter seiner Theke und hustete den ganzen Tag.
    »Ich werde sterben wie meine liebe Frau«, sagte er zu der Bondarewa. »Auch die selige Natalja spuckte Blut und hustete sich die Lunge stückweise heraus. Was soll man tun? Sagt doch der Arzt zu mir, nachdem er mich abgehorcht hat: ›Wie alt bist du, Väterchen?‹ Und ich antworte: ›Genau weiß ich das nicht. Man hat meine Geburt nicht aufgeschrieben, ich war eines Tages da und wurde nicht weiter registriert. Später habe ich mich entschlossen, dem 15. Mai als meinem Geburtstag den Vorzug zu geben. Der Mai ist ein schöner Monat, und genau in der Mitte, das ist ein guter Tag. Und das Jahr? Na, sagen wir, ich bin jetzt sechsundsiebzig Jahre alt, Hochwohlgeboren.‹ Und was sagt der Arzt darauf zu mir? ›Väterchen, das ist ein gutes Alter! Wer wird schon so alt? Da darf man Husten und Blut spucken. Freu dich noch am Leben … aber denke immer an die Ewigkeit!‹ Das war's. Keine Pillen, keine Tropfen, rein gar nichts. So ist die Jugend heute: Du hast lange genug gelebt! Also sitze ich hier und warte, bis ich mich ausgehustet habe …«
    Rosalia brachte ihm daraufhin jede Woche die besten Lebensmittel, gebratenes Fleisch, Sahne und Kuchen. Minajew verschlang alles wie ein Raubtier, wurde dicker und … hustete nicht mehr.
    Monate später verkaufte er heimlich rote Fahnen und rote Armbinden und sagte zu der verblüfften Bondarewa: »Da bist du ja, du Kapitalistenweib! Pack deinen Braten aus! Man muß euch schädigen, wo man kann!«
    Rosalia Antonowna hörte sich das zweimal an; bei der dritten sozialistischen Begrüßung haute sie Minajew eine Ohrfeige herunter, daß der Alte an die Wand flog, und schrie: »Wo komme ich denn her, he? Habe ich nicht ein halbes Leben lang bei dir gewohnt? In einem stinkenden Zimmer! Hast du das schon vergessen? Ich nicht!«
    Sie zog Minajew am Rockkragen hoch, stellte ihn an die Wand und versetzte ihm abermals zwei schallende Ohrfeigen.
    Der Alte rollte wild mit den Augen, schnaufte einmal tief und sagte dann: »Jetzt bist du endlich wieder meine alte Rosalia! Dein Federhut, deine Seidenkleider und deine weichen Stiefelchen … Scheußlich!«
    So war das mit Minajew gewesen.
    Und immer, wenn die Bondarewa zurückkam aus ihrer trüben Vergangenheit, saß sie mit mürrischem Gesicht in ihrem prächtigen Palais und sagte zu Mustin, dem Zwerg:
    »Bei Gott, wir sind alle Schmarotzer! Weißt du, daß von meinem Hut eine ganze Familie zwei Monate leben kann? Unsere Pferdchen haben dicke Bäuche vom Fressen – und um uns haben Tausende von Kindern dicke Bäuche vom Hunger! Die Verteilung der Vermögen ist ungerecht!«
    »Sagt Lenin!« Der Zwerg saß auf einem Sofa im Damensalon und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher