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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen
Autoren: Paul Verne
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gewarnt und beeilten unsern Marsch so sehr, wie unsere Unerfahrenheit dies irgend gestattete; aber nachdem wir diese Gefahr hinter uns hatten, erwartete uns noch eine andere, nicht minder große, in Gestalt der Séracs. Es sind dies, wie schon erwähnt, ungeheure Eisblöcke, deren Formation noch nicht genügend erklärt ist. Sie liegen gewöhnlich am Rande eines Plateaus und bedrohen das ganze unter ihnen befindliche Thal. Ein geringes Fortrücken des Gletschers oder auch eine leichte Vibration der Atmosphäre kann sie in Bewegung setzen und somit die schwersten Unglücksfälle verursachen.
    »Meine Herren, lassen Sie uns hier schweigen und gehen wir schnell vorüber.«
    Diese von einem der Führer in rauhem Ton an uns gerichteten Worte machten jeder Unterhaltung schnell ein Ende. Wir schreiten rasch in tiefer Stille vorüber und gelangen zu der sogenannten Jonction , die man richtiger eine gewaltsame Separation zwischen dem Berge La Côte, den Bossons und Tacconay-Gletschern nennen könnte.
    Von hier aus wird der Charakter unserer Umgebung ein total anderer; Spalten mit schillernden Farben, Eisnadeln mit vorspringenden, wunderlich gestalteten Figuren, schwebende, von einer Seite zur andern durchstochene Firnblöcke, kleine Seen von graugrüner Meerfarbe bilden ein Chaos, das alles Denkbare übersteigt. Man füge hierzu das donnerähnliche Grollen der Gebirgsströme, das unheilkündende, wiederholte Krachen der Blöcke, die sich ablösen, um lawinenartig in die tiefen Spalten zu stürzen, das Erdbeben des Bodens unter unseren Füßen, und man wird sich einen Begriff von den öden, düsteren Gegenden machen können, deren Leben sich nur in Tod und Zerstörung zeigt.
     

    Ueberbrückung der Jonction. (S. 262.)
     
    Ist die Jonction überschritten, so folgt man eine Zeit lang dem Tacconay-Gletscher und kommt zu einem Abhange, der nach den Grands-Mulets führt. Dieser ist außerordentlich steil und muß in Windungen erstiegen werden, die der erste Führer bei frischem Schnee unter einem Winkel von etwa dreißig Grad zu ziehen pflegt, um die Lawinen zu vermeiden.
    Nach einem mindestens dreistündigen Marsch über Schnee und Eis gelangen wir endlich zu den Grands-Mulets, 200 Meter hohen Felsen, die auf der einen Seite den Gletscher der Bossons, auf der anderen die geneigten, bis zum Dom-du-Goûter reichenden Firnebenen beherrschen.
    Eine kleine, 3050 Meter hoch gelegene Hütte, von Führern am Gipfel des ersten Felsens erbaut, gewährt den Reisenden Zuflucht und gestattet ihnen, die Stunde der Weiterreise nach dem Gipfel des Mont-Blanc unter Dach und Fach abzuwarten.
    Man ißt und schläft hier nach Kräften, aber das Sprichwort: »Wer schläft, den hungert nicht«, hat keinen Sinn in dieser Höhe, denn man kann hier weder gehörig essen noch schlafen.
    Nachdem wir eigentlich nur dem Namen nach eine Mahlzeit gehalten hatten, äußerte ich gegen Levesque:
    »Habe ich Ihnen die Pracht dieses landschaftlichen Bildes vielleicht zu sehr gerühmt und thut es Ihnen leid, daß Sie bis hierher mitgekommen sind?
    – So wenig, entgegnete er, daß ich fest entschlossen bin, die Reise bis zum Gipfel des Mont-Blanc mitzumachen. Sie können in dieser Beziehung auf mich rechnen.
    – Das wäre mir natürlich sehr angenehm, erwiderte ich, es wird Ihnen aber wohl bekannt sein, daß uns der schlimmste Theil der Reise noch bevorsteht.
    Ei was! rief er aus, wir werden unser Ziel schon erreichen! Nun aber wollen wir uns den Sonnenuntergang ansehen, der von hier aus einen prächtigen Anblick gewähren muß.«
    Wirklich war der Himmel bis jetzt wundervoll klar geblieben.
    Die Kette des Brevent und der Aiguilles-Rouges dehnte sich zu unsern Füßen aus. Jenseit steigen die Felsen der Fiz und die Aiguille-de-Varan über das Thal von Sallanche empor und verweisen die ganze Kette der Monts-Fleury und des Reposoir in den Hintergrund. Weiter rechts beherrscht der Buet mit seinem schneeigen Gipfel, mehr in der Ferne die Dent-du-Midi mit ihren fünf Zacken das Rhonethal. Hinter uns ewiger Schnee, der Dom-du-Goûter, die Monts-Maudits (verwünschten Berge) und endlich der Mont-Blanc.
    Allmälig bedeckt Schatten das Thal von Chamouni und erreicht nach und nach jeden der Gipfel, die es im Westen überragen. Die Kette des Mont-Blanc wird allein von der Sonne bestrahlt und scheint von einem goldenen Nimbus umgeben. Bald hüllen sich auch der Dom-du-Goûter und die Monts-Maudits im Schatten, aber noch immer bleibt unser Alpenriese von Licht umflossen. Wir
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