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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen
Autoren: Paul Verne
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folgen bewundernd diesem langsam-progressiven Verschwinden der Sonnenstrahlen, die sich noch einige Zeit auf dem letzten Gipfel halten und uns die thörichte Hoffnung geben, daß sie nicht von dieser Höhe weichen werden. Aber schon nach wenigen Minuten ist Alles dunkel geworden, und dem so lebhaften Farbenspiel folgen die bleichen Schatten des Todes. Ich habe nicht zu viel gesagt; wer die Berge liebt wie ich, wird mich verstehen.
     

    Die Grands-Mulets. (S. 263.)
     
    Nachdem wir diese grandiose Scene angestaunt hatten, blieb uns nur noch übrig, auf die Stunde der Abreise zu warten. Wir sollten uns um zwei Uhr Morgens auf den Weg machen, und Jeder streckte sich auf seiner Matratze aus, um bis dahin zu ruhen.
    An Schlaf ist jedoch nicht zu denken und ebenso wenig an Plaudern. Mehr oder minder düstere Gedanken absorbiren Jeden von uns, es ist wie in einer Nacht, die der Schlacht vorangeht, jedoch mit dem Unterschiede, daß nichts uns zwingt, den Kampf aufzunehmen.
    Zwei Gedankenströmungen streiten sich um die Herrschaft in unserem Geist; man könnte sie der Ebbe und Fluth des Meeres vergleichen, und gleich ihnen trägt bald die Eine bald die Andere den Sieg davon. Die Einwürfe gegen solche Unternehmung bleiben nicht aus; wozu sich dergleichen Abenteuern aussetzen? Welchen Vortheil hat man davon, selbst wenn sie gelingen? Wer denkt unserer mit Bedauern, wenn wir einem Unfall zum Opfer werden? Dann mischt sich die Phantasie in unsere Betrachtungen, alle traurigen Katastrophen, die sich in diesen Bergen ereigneten, und von denen wir hörten, erscheinen vor unserem Geist; wir träumen, daß Schneebrücken unter unseren Füßen einstürzen, wir meinen in die klaffenden Spalten hineingerissen zu sein, und hören das furchtbare Krachen der Lawine, die uns packen, uns begraben will… Die Schauer des Todes legen sich kalt und schwer über uns, wir suchen mit letzter, äußerster Anstrengung…
    Horch! was ist das? ein unheimliches, pfeifendes Geräusch!
    »Die Lawine! die Lawine! schrie ich erschreckt auf.
    – Was Ist Ihnen? was wollen Sie?« rief Levesque, durch meinen Ruf aus seinem Schlummer emporgeschreckt.
    Ich hatte in der Anstrengung meines Alpdrückens ein Stück Möbel umgestürzt, und diese sehr prosaische Lawine brachte mich nun in die Wirklichkeit zurück. Ich lachte über meinen Schrecken, und die Gegenströmung gewann die Oberhand; meine ehrgeizigen Pläne siegten. Es kommt nur auf Dich an, flüsterten sie mir zu, ob Du mit einer kleinen Anstrengung den so selten betretenen Gipfel erreichen willst. Wie selten sind Unfälle auf diesem Wege! wie sehr selten! Und wie herrlich muß die Aussicht von dort oben sein! welche Genugthuung wird es Dir gewähren, vollendet zu haben, was Andere sich kaum erkühnten zu unternehmen!
    Diese Gedanken hatten mir wieder neuen Muth eingeflößt; ich erwarte ruhig den Augenblick des Aufbruchs.
    Gegen ein Uhr schon verkündeten uns die Schritte der Führer, ihre Gespräche und das Auf-und Zugehen der Thüren, daß der große Moment gekommen sei.
    »Auf, meine Herren, rief Ravanel, das Wetter ist prächtig; gegen zehn Uhr können wir auf dem Gipfel sein!«
    Bei diesen Worten erheben wir uns von unseren Betten und machen schnell Toilette. Zwei der Führer, Ambroise Ravanel und sein Vetter Simon gingen mit einer Laterne voraus; das Licht soll uns den Weg anzeigen, den sie bei schwierigen Stellen mit dem Eisbeil für uns zugänglich machen.
    Um zwei Uhr binden wir Alle uns in folgender Reihe an einander: Vor mir und somit allen voran Eduard Ravanel; hinter mir Eduard Simon, dann Donatien Levesque; ihm folgen unsere beiden Träger, wir hatten den Diener aus der Hütte der Grands-Mulets noch mitgenommen, und zuletzt die Karawane des Herrn N…
     

    Hütte auf den Grands-Mulets.
     
    Die Führer und Träger theilten die Vorräthe unter sich, dann wurde das Signal zum Aufbruch gegeben, und wir machten uns inmitten tiefer Finsterniß auf den Weg, immer der Laterne folgend, die unsere ersten Führer mitgenommen hatten.
    Dieser Aufbruch hatte etwas, Feierliches; es wurde wenig gesprochen; die Leere des Unbekannten ergriff und erschütterte uns, aber das Neue, Gewaltige der Situation hob uns empor und machte uns furchtlos gegen die drohenden Gefahren. Die Landschaft machte einen phantastischen Eindruck auf uns; ihre Umrisse ließen sich kaum unterscheiden; große, weißliche Mauern mit schwarzen, wenig hervortretenden Massen verschließen den Horizont. Das Himmelsgewölbe strahlt in
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