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Erwacht

Erwacht

Titel: Erwacht
Autoren: Jessica Shirvington
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seine Halle. Und ich auch. Das Schönste daran waren die riesigen Bogenfenster an beiden Enden. Durch sie flutete tagsüber das Sonnenlicht herein und ergoss sich über die große offene Fläche. Es war der perfekte Ort für Kunst. Das war einer der Gründe, weshalb ich die Lagerhalle liebte. Der andere Grund hing eher mit ihrem Bewohner zusammen.
    Schweigend packten wir in der Küche die Lebensmittel aus. Bei jedem Öffnen des Kühlschranks und bei jedem Rascheln von Plastiktüten schlug mein Herz schneller, ich wurde noch beklommener und fragte mich, was er sagen würde. Aber er sagte nichts, sondern stapelte wie immer die Zutaten auf den Tisch und machte sich daran, das Abendessen zuzubereiten.
    Nachdem er ein Schneidebrett herausgeholt und alles vorbereitet hatte, blickte er mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir auf. »Also …« Er räusperte sich. »Wie war dein Tag?«
    Ich bemerkte, dass ich schweigend und reglos mitten in der Küche stand wie ein verlorenes Kind. Ich löste meine Füße vom Boden, ging hinüber zur Theke und lehnte mich, so lässig ich konnte, dagegen. »Großartig. In der Schule lief es gut. Ich habe es in den Fenton-Kurs geschafft.«
    Lincoln legte das Messer hin, wandte sich zu mir um und grinste von einem Ohr zum anderen. Ich schmolz dahin, weil er mich so gut kannte. Weil er wusste, wie viel mir der Kurs bedeutete.
    »Gott sei Dank! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, ich hätte meine Wand einem Amateur versprochen«, neckte er mich und zog mich in eine Umarmung. Er roch nach getrockneter Sonnencreme, und sein Körper strahlte Wärme aus. Ich entspannte mich in seinen Armen. Es gefiel mir, dass ich die ideale Größe hatte, um meinen Kopf bequem an seine Schulter zu legen. Es war, als wären wir zwei Teile von einem Puzzle, so gut passten wir zusammen. Sobald ich mich entspannt hatte, trat Lincoln natürlich einen Schritt zurück. Es war wie bei den übrigen Millionen von Umarmungen zwischen uns, und obwohl ich mir jedes Mal wünschte, dass mehr dahintersteckte, signalisierte mir seine Körpersprache, dass das nicht der Fall war.
    »Also«, sagte er, »bist du bereit für die Übertragung der offiziellen Eigentumsrechte?«
    »Ja, definitiv«, sagte ich und sammelte mich wieder. »Ich würde sie zuerst gern grundieren, wenn das okay ist.«
    »Es ist deine Wand – mach damit, was du willst.«
    Er lächelte und wandte sich wieder seinem Schneidebrett zu. Ich hatte ihn über ein Jahr damit genervt, dass ich ein Wandgemälde an eine seiner Wände malen wollte, und schließlich hatte ich ihn überredet.
    »Wollen wir vielleicht zuerst essen?«, schlug er vor. »Ich bin am Verhungern.«
    »Klar.«
    Hatte er wirklich nicht vor, darüber zu sprechen? Die Leute wollten doch immer die Einzelheiten erfahren. Zuerst die Behörden. Dann meine sogenannten Freunde, die mich daran hinderten zu vergessen. Dann fiel mir ein, dass es ihm vielleicht egal war, dass er es gar nicht wissen wollte. Bevor ich mich auf dieses unsichere Terrain vorwagte, zwang ich mich, eine Entscheidung zu treffen. Entweder musste ich geduldig abwarten, ob er damit anfing, oder ich musste einfach selbst etwas sagen.
    »Ich war vierzehn«, brach es aus mir heraus.
    Lincolns Augen blitzten zu mir auf und er hielt einen Augenblick in seiner Bewegung inne, dann zerlegte er einfach weiter das Hähnchen.
    »Okay.«
    »Ich weiß, dass dir Dad davon erzählt hat«, sagte ich abwehrender, als ich vorgehabt hatte.
    Wieder schaute er kurz auf. »Wir sind uns zufällig über den Weg gelaufen, ja.« Schnipp, schnipp, schnipp.
    »Und?«, fragte ich mit zunehmender Verwirrung. »Willst du mich nicht danach fragen?«
    » Möchtest du denn, dass ich Fragen stelle?« Er warf das Hühnerfleisch in die Pfanne, wo es anfing zu brutzeln und zu dampfen.
    »Was soll das heißen?«, fragte ich und klemmte mir einige Haarsträhnen hinter die Ohren.
    »Es heißt, dass es einen guten Grund geben muss, weshalb du mir nicht schon vorher davon erzählt hast. Wenn dieser Grund noch steht, dann möchte ich nicht, dass du dich verpflichtet fühlst, es mir zu erzählen, nur weil dein Dad nebenbei etwas erwähnt hat. Wir haben alle unsere Geheimnisse, Violet. Glaub mir. Wir alle haben Dinge, über die wir nicht sprechen können.«
    Er fuhr mit dem Kochen fort, aber dann blickte er wieder auf. »Jedenfalls machst du das mit deinen Haaren« – er zeigte auf sein Ohr – »nur wenn du dir Sorgen machst. Wenn du nervös bist.«
    Wow. Damit hatte ich nicht gerechnet.
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