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Erwacht

Erwacht

Titel: Erwacht
Autoren: Jessica Shirvington
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eine schwarze Jogginghose und ein weißes, ärmelloses T-Shirt, das seine gebräunte Haut und sein sonnengebleichtes braunes Haar gut zur Geltung brachte. Er hatte wohl einen Pakt mit der Sonne geschlossen – nicht so wie ich, die trotz Kappe und Sonnencreme immer noch aufpassen musste. Ich blieb einen Moment stehen und genoss die Wärme, die mich immer durchströmte, wenn er in meiner Nähe war, und wappnete mich für das, was nun, da Dad seine Klappe nicht gehalten hatte, auf mich zukam.
    Ich beobachtete, wie Lincoln Lebensmittel in einem Korb verstaute, nachdem er zuerst die Nährwerttabelle auf der Rückseite jeder Packung studiert hatte. Bei allem, nur nicht bei meinen Lieblingsschokokeksen – die warf er, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen, hinein. Entschlossen holte ich Luft und klopfte an die Glasscheibe, wobei mir ein bisschen übel war, weil ich noch aufgeregter war als sonst, wenn ich ihn traf. Er wandte sich um und lächelte bereits, als hätte er schon vorher gewusst, dass ich es bin, und obwohl ich eigentlich darauf vorbereitet war, stockte mir der Atem und ich hatte Schmetterlinge im Bauch – etwas, das mir nur mit ihm passierte. Nachdem ich nun seit zwei Jahren fast tagtäglich sein Gesicht sah, sollte man annehmen, dass ich das besser im Griff hätte. Aber von wegen.
    Forschend betrachtete ich sein Lächeln, prüfte es auf Anzeichen einer Veränderung. Er streckte zwei Finger nach oben, um mir mitzuteilen, dass er noch ein paar Minuten brauchen würde. Als er sich wieder umdrehte, hörte ich auf zu nicken wie eine Idiotin und fragte mich (zum millionsten Mal), ob er sehen konnte, wie hingerissen ich war. Falls er es sah, ließ er sich jedenfalls nie etwas anmerken. Auch sein Lächeln hatte nichts verraten. Es war dasselbe schöne – platonische – Lächeln wie immer.
    Die Dämmerung brach herein, während ich neben ein paar ausrangierten Plastikkisten herumlungerte – den vielen Zigarettenkippen nach, die hier herumlagen, handelte es sich wohl um den provisorischen Pausenraum der Ladenangestellten. Eine kühle Abendbrise wehte durch die warme Luft und ich wandte ihr mein Gesicht zu, schloss die Augen und atmete sie ein. Dabei bemerkte ich das anschwellende Grillenkonzert in der Ferne. Zu dieser Jahreszeit erfüllte das Zirpen der Grillen die Nacht, auch wenn weit und breit keine Gärten in Sicht waren.
    Als ich die Augen wieder öffnete, gingen gerade flackernd die Straßenlichter an. Die Gebäude, die den Gehweg säumten, warfen scharfe, gezackte Schatten über die Straße und veränderten mit einem Mal die Stimmung in ein finsteres Schauspiel aus Licht, das von Schatten geschluckt wird. Die Stimmung ergriff von mir Besitz, und ich musste mich anstrengen, dass meine Gedanken nicht anfingen zu kreisen, dass sie mich nicht dazu zwangen, Dinge erneut zu durchleben, die ich lieber vergessen wollte. Aber sobald ich einen aufwühlenden Gedanken verscheucht hatte, trat ein anderer an seine Stelle – nämlich der an das Holzkästchen meiner Mutter. Ich war froh, dass ich so viel Übung darin hatte, mich abzuschotten, denn eigentlich wollte ich jetzt nicht darüber nachdenken, ob sie gewusst hatte, dass sie sterben würde. Nein … das wollte ich gar nicht so genau wissen.
    »Fertig.« Lincoln stand neben mir und ich hatte ihn noch nicht einmal kommen hören. Nicht gut, Vi.
    Ich blickte ihn kurz an, ängstlich darauf bedacht, ihn nicht zu lange anzuschauen. »Hey. Willst du kochen?«
    »Ja, ich dachte, das wäre eine gute Idee. Ist das okay?«
    »Klar. Was steht auf dem Speiseplan?«, fragte ich und klemmte mir ein paar lose Haarsträhnen hinter das Ohr. Wir machten uns auf den Weg zu Lincolns Lagerhalle und ich nahm ihm eine der Taschen ab. Unsere Finger berührten sich ganz kurz, aber es reichte, um mein Herz höher schlagen zu lassen.
    »Pasta, Huhn, Basilikum, Feta«, sagte er beiläufig, als er die Zutaten meines Lieblingsnudelgerichts aufzählte.
    Ich biss mir auf die Unterlippe. Ein Mitleidsessen. Shit.
    Als wir Lincolns Lagerhalle betraten, überkam mich eine Woge der Zufriedenheit. Kein Ort fühlte sich mehr nach Zuhause für mich an. Lincoln hatte sie gerade gekauft, als wir uns kennenlernten. Für Lagerhallenverhältnisse war sie klein, aber für einen Singlehaushalt war sie riesig. Als er sie in Besitz genommen hatte, war sie eine Müllkippe gewesen, aber Schritt für Schritt hatte er sie aufgemöbelt und dabei ein gutes Händchen bewiesen, das musste man ihm lassen. Er liebte
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