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Erwacht

Erwacht

Titel: Erwacht
Autoren: Jessica Shirvington
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wanderte durch das Zimmer und er stand auf und ging zu seinem Schreibtisch, wo er auf einmal ganz versessen auf einen Stapel Papier zu sein schien.
    »Was hast du angestellt, Dad?« Mein Herz setzte ein paar Schläge aus und ich hatte das schreckliche Gefühl zu wissen, worauf das hinauslief.
    »Nichts. Nichts. Wir haben nur über euch beide geplaudert, weißt du, über euer Training. Lincoln hat erzählt, dass ihr nächsten Monat an einem Marathon teilnehmt. Das hört sich nach einer Menge Spaß an.« Er lächelte angestrengt. »Und … ähm … er fragte mich nach der Arbeit, was ziemlich nett war von ihm und … weißt du …«
    »Nein. Weißt – du – was ?«
    »Na ja, ich sagte, erwähnte eigentlich nur, dass du … na ja, dass du an deiner alten Schule eine harte Zeit hattest und … ach, weißt du … ob er das vielleicht berücksichtigen könnte … Er ist nun mal fünf Jahre älter als du, Vi. Ich wollte nur nicht, dass du dich unter Druck gesetzt fühlst. Ich hatte das nicht geplant, ich bin ihm nur zufällig über den Weg gelaufen und … Himmel noch mal«, sagte er und wurde immer nervöser. »Deine Mutter kam mir in den Sinn und ich dachte, dass sie bestimmt wollte, dass ich … etwas sage , weißt du?«
    Jemand soll mich auf der Stelle erschießen! Erst tiefe Gefühle und dann das !
    Ich stand auf und ging ans andere Ende des Raumes. Die Spannung, die in der Luft lag, war beinahe greifbar. Keiner von uns wollte über den Übergriff reden. Tatsächlich bestand eine stille Übereinkunft, dass es tabu war, darüber zu sprechen. Schon die geringste Erwähnung erfüllte den Raum mit einer vertrauten Finsternis.
    Ich starrte auf meine Füße hinunter und stieß den Zeh meiner Turnschuhe in den Teppich, als könnte ich ihn dadurch verschieben, wenn ich mich nur genug konzentrierte. Warum konnte ich nicht zu den Jugendlichen gehören, deren Eltern wussten, was sie taten?
    »Dazu hattest du kein Recht«, sagte ich rundheraus.
    »Das stimmt nicht ganz, Violet. Ich bin dein Vater .«
    Er hatte sich echt einen großartigen Zeitpunkt ausgesucht, die Sache in die Hand zu nehmen.
    »Dad, du liegst so was von daneben, ich kann noch nicht mal … Lincoln hat mich überhaupt nicht unter Druck gesetzt!« Ich schnappte meine Tasche und hievte sie mir auf den Rücken. »WIR SIND NUR FREUNDE! Er interessiert sich, was das angeht, kein bisschen für mich – und dank deiner Hilfe«, ich schüttelte ungläubig den Kopf und sah ihn an, »wird es jetzt auch niemals dazu kommen.«
    Dads Augen weiteten sich vor Überraschung. Offenbar war er davon ausgegangen, dass Lincoln und ich längst ein Paar waren.
    »Oh …« Er stolperte über seine eigenen Worte und kriegte die Kurve nicht mehr. Großartig, jetzt denkt auch noch mein eigener Vater, ich sei total armselig. »Oh … ich hatte das nur vermutet. Sorry, Vi. Ich bin nur … nach allem, was passiert ist … ich mache mir einfach Sorgen.«
    Ich antwortete nicht.
    »Ich werde mich ab jetzt raushalten«, fügte er hinzu.
    »Ich muss los. Bis morgen Abend dann«, murmelte ich, weil ich wusste, dass wir uns vorher nicht über den Weg laufen würden, obwohl wir unter demselben Dach wohnten. Vor allem nicht jetzt.
    »Ja! Großartig! Ich freue mich so auf dein Geburtstagsessen. Treffen wir uns um sieben?«, fragte er übertrieben begeistert.
    Ich war schon auf dem Weg zur Tür. Ich warf eine Hand nach oben.
    »Ja ja.«
    Das Gute an Dad war, dass ich wusste, er würde einfach so tun, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden.

KAPITEL DREI
    »Es gibt einen alten Wahn,
der heißt Gut und Böse.«
    FRIEDRICH NIETZSCHE
     
    I ch überlegte mir, ob ich anrufen und unter irgendeinem Vorwand meinen Besuch bei Lincoln absagen sollte. Aber auch wenn ich nicht über den Übergriff sprechen wollte, hatte ich vor langer Zeit beschlossen, nicht zuzulassen, dass er mein Leben bestimmte. Ich wünschte, Dad hätte die Klappe nicht so weit aufgerissen, aber nun, da Lincoln Bescheid wusste, würde ich nicht davonlaufen. Das war eine meiner Regeln – ich laufe nicht davon und ich gebe nicht auf. Und seit dem Übergriff, seit der Gerichtsverhandlung und dem Schulwechsel, waren diese Regeln wie ein Mantra für mich. Sie halfen mir, das alles durchzustehen.
    Obwohl ich ein extra gemütliches Tempo vorlegte, kam ich zu früh in Lincolns Straße an und entdeckte ihn durch das Schaufenster des Ladens an der Ecke. Dort stand er mit dem Rücken zu mir und hatte noch immer seine Trainingsklamotten an –
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