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Erwacht

Erwacht

Titel: Erwacht
Autoren: Jessica Shirvington
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aber ich konnte hören, dass er tiefer atmete, wie immer, wenn er sich aufregte. Dann kam die Frage, die ich erwartet hatte. Zumindest versuchte er, sie zu stellen.
    »Vi … hat … hat er?«
    Es ist nicht so einfach, jemanden rundheraus zu fragen, ob er vergewaltigt wurde. Man sollte meinen, dass das einfach nur eine Frage ist, aber sie auszusprechen ist etwas ganz anderes. Ich hatte die grässliche Erfahrung gemacht, eine Menge Leute dabei beobachten zu müssen, wie sie versuchten, den Mut aufzubringen, diese Frage zu stellen. Selbst Leute, bei denen man davon ausging, dass sie sachlich bleiben würden, schafften es nicht.
    »Nein. Ich meine, er wurde rechtzeitig aufgehalten, aber …« Ich stand auf. »Ich hole noch Kaffee«.
    Als ich zu ihm auf die Couch kam, legte Lincoln den Arm um mich und zog mich einen Augenblick lang an sich. Ich entspannte mich, lehnte meinen Kopf an seine Brust und akzeptierte, was er mir auf seine Weise sagen wollte – ich war sicher.
    Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und klemmte sie mir hinter das Ohr; dabei redete er ruhig auf mich ein, wobei sein warmer Atem über meinen Hals strich. Er roch nach Kaffee mit Zucker. »Ich verspreche dir, dass er dir nie wieder etwas antun wird. Du bist … ich werde ihn niemals in deine Nähe lassen«, flüsterte er. Ich glaubte ihm. Auch wenn wir nur befreundet waren, wusste ich, dass es stimmte. Er kannte und verstand mich in einer Weise, wie niemals jemand es zuvor überhaupt versucht hatte. Er hatte immer verstanden, dass ich das Bedürfnis hatte, stark zu sein, dass ich vor nichts davonlaufen konnte – auch wenn er bis heute niemals vollkommen verstanden hatte, warum. Er hatte das nie infrage gestellt oder dafür gesorgt, dass ich mir blöd vorkam. Stattdessen half er mir und machte mich stärker.
    »Linc?«
    »Ja.«
    »Wegen der anderen Sache, die mein Dad angesprochen hat.« Ich wand mich.
    »Was sollte er sich denn sonst dabei denken?«, fragte er. In seinem Tonfall lag ein Lächeln. »Du bist die ganze Zeit hier. Entweder wir trainieren oder du bist einfach so da. Es überrascht mich, dass er mich nicht schon früher verwarnt hat. Schön zu sehen, dass er aufpasst.«
    Und damit beendete er das Thema – schlicht und einfach. Aber dadurch fand ich ihn nur umso begehrenswerter und musste mich selbst fragen, was ich mir denn sonst dabei denken sollte.

KAPITEL VIER
    »Im Laufe eines Jahres gibt es ebenso viele Nächte wie Tage, und die einen dauern gesamthaft gesehen ebenso lange wie die anderen. Auch das glücklichste Leben ist nicht ohne ein gewisses Maß an Dunkelheit denkbar, und das Wort Glück würde seine Bedeutung verlieren, hätte es nicht seinen Widerpart in der Traurigkeit.«
    C. G. JUNG
     
    I ch füllte eine Farbwanne mit Grundierung und machte mich an meiner Wand zu schaffen. So gern ich auch weiterhin auf der Couch herumgelungert wäre – der Kontrollfreak in mir hatte schließlich gewonnen. Im Moment war das der beste Ort für mich – mit dem Gesicht zur Wand, der Welt den Rücken zugekehrt. Das ist einer der Gründe, warum ich so gern male.
    Ich fand in einen guten Rhythmus. Aber selbst das gleichmäßige Tempo konnte meine Erinnerungen nicht beiseiteschieben. Tränen strömten mir lautlos über das Gesicht. Ich hasste es, dass mir das passieren konnte. Immer noch.
    Ich streckte mich nach oben und begann, die Geduld zu verlieren. Ich fühlte, wie alles in mir hochkochte, dann legte sich eine Hand auf meinen Arm und mein ganzer Körper fuhr vor Angst zusammen. Das war ein Reflex, den ich nicht verhindern konnte, und ich hasste mich dafür, dass ich ihn hatte. Es war der Reflex eines Opfers.
    Lincolns Hand ließ mich nicht los. Stattdessen wanderte sie an meinem Arm herunter und nahm mir vorsichtig den Pinsel aus der verkrampften Hand.
    »Ich mache das.«
    »Schon okay. Ich kann …«
    Aber er schnitt mir das Wort ab, indem er um mich herumkam, um mich anzuschauen. Ich konnte ihm nicht in die Augen blicken. »Ich werde auf dich aufpassen.« Er strich mir über das Haar und ich atmete bebend aus, vor Angst, die Fassung zu verlieren. »Bitte, nur heute Abend. Bevor …«, sagte er in kaum mehr als einem Flüstern. Ich schaute auf und mein Blick blieb an der Intensität seiner leuchtend grünen Augen hängen. Als Reaktion darauf schien mein Körper zu schmelzen. Die letzte der Erinnerungen verblasste.
    »Bevor was?«, murmelte ich.
    Er blinzelte und trat zurück. »Nichts. Hast du schon entschieden, was du malen
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