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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche
Autoren: Bodo Kirchhoff
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einer, der dem Leben anderer vieles entrissen hat, um es mitzunehmen. »Und doch möcht ich im Grabe liegen, / Und mich an ein totes Liebchen schmiegen«, sagt Heinrich Heine, den er mir auch hinterlassen hat, und in M.s alter Werther -Schulausgabe findet sich der geradezu wütend, aber mit Lineal angestrichene Satz: »So ist mir’s oft, ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freiheit schaffte.«
    Die Luft in der Wohnung ist immer noch warm, die Vögel pfeifen, bald geht die Sonne auf, das Licht eines werdenden Sommertags. Als der spätere Briefeschreiber nach seinem nächtlichen Autounfall in Tübingen, im Gesicht und am geschorenen Kopf x-fach zusammengenäht, morgens um sechs auf schwachen Beinen vor dem späteren Leser und Verwahrer der Briefe stand (ich hatte mich selbst entlassen, von einer ungeheuren Vorfreude auf diesen Augenblick erfüllt), pfiffen ebenfalls die Vögel, und es herrschte dasselbe vielversprechende Licht. Der ganze Sommer schien an diesem Morgen anzubrechen, und ich klingelte M. aus dem Bett, kaum noch in der Lage zu stehen; er öffnete die Tür, er erfasste sofort den Ernst, zweimal fiel mein Name. Ich sei durch die Windschutzscheibe geflogen, sagte ich, und M., in einer dunklen Dreiecksunterhose, seinem Schlafanzug in Sommernächten, schob mich zum offenen Fenster, ins Licht, und flüsterte Scheiße, als er das Blut sah, das noch überall klebte, auf dem Kopf, am Hals, am Hemd. Ich versuchte zu lächeln, wie Soldaten in Kriegsfilmen bei ähnlichen Blessuren lächeln, während er sich die Hände wusch; und dann hob der künftige Arzt sachte den Mull an und begutachtete jeden einzelnen der Schnitte, besonders den fast tödlichen neben der Halsschlagader, mit sechs Stichen genäht, er zählte sie halblaut; und immer wieder sein respektvolles Scheiße, als würde er den Freund um den Unfall beneiden, um die Begegnung mit dem Tod und das Schnippchen, das er ihm geschlagen hatte. Erst als das Ausmaß der Verletzungen feststand, kam seine Frage nach dem Hergang und als Antwort nur, ich sei zu schnell gefahren und auf der Neckarbrücke ins Schleudern geraten – vom Einhalten und Verlieren der Wette kein Wort. Und M. sagte, ich solle mich hinlegen, worauf ich in sein Bett ging, während er eine Platte aus seiner Sammlung zog, mit dem Rücken zu mir und noch immer in Unterhosen, aber schon rauchend; er fuhr mit dem Staubtuch über die Platte und legte sie auf, zärtlich wie immer, und damit nicht genug: Ich sah ihn zwei Tassen spülen und Kaffee aufsetzen, ich sah ihn Knäckebrote mit Butter und Marmelade bestreichen und einen Apfel schälen. M. bereitete im Glanz eines Tübinger Frühsommermorgens für uns beide oder mehr für mich, den Verletzten, ein komplettes Frühstück vor – einzige Tat dieser Art in all den Jahren – und servierte es in seinem noch schlafwarmen Bett zu unserem Leib- und Magenlied aus dem letzten Internatsjahr, Eve of Destruction, dieser beschwörenden Rede an einen Freund, gesungen mit der zornigen Stimme von Barry McGuire. Schulter an Schulter saßen wir auf M.s Lager, er vor jedem Zigarettenanzünden mit dem Blick auf meine Schnitte, vor allem den einen, und hörten immer wieder den rauen Gesang über eine verrückte Welt am Vorabend ihrer Vernichtung und nickten einander zu, wie eine Antwort auf die wiederkehrende Frage des Sängers, Tell me over and over and over and over again, my friend, ah, you don’t believe, we’re on the eve of destruction? Nur war unser Bejahen des drohendes Untergangs zugleich auch das Ja zum Leben in dieser verrückten Welt, zu einer Freiheit, die aus geöffneten (und sachgerecht wieder geschlossenen) Adern erwuchs – ein Ja, das sich in M.s Art des Rauchens zwischen Kaffee und Knäckebroten mit Marmelade ebenso ausgedrückt hat wie in einer Geste: als er mir seine Zigarette an den Mundwinkel hielt – auch meine Unterlippe war genäht –, damit ich ziehen konnte. Es war ein Ja als Auflehnung gegen die Welt und ein Ja als Bereitschaft zum Sturz in das Leben, das jedem von uns in dieser Welt bevorstand. Wir saßen nebeneinander im Bett, während die Sonne aufging, und nickten zur Musik gegen das drohende Ende unserer Freundschaft an – die zwar keine Dummheiten zuließ, aber jenen Funken Liebe, der auch aus der Stimme von Barry McGuire schlägt, wenn er die Worte my friend singt. Zehn Tage später flog und floh ich, noch mit den Fäden im Gesicht, in die USA, um dort Eis zu verkaufen, ein Sommerjob, und anschließend zu
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