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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Eintrittskarte, Arena Berlin-Treptow, für Element of Crime , Stehplatz, Samstag den 2. Oktober 2004 (sein letzter Konzertbesuch); der schmerzverzerrte Dubček und ein Zeitungsartikel: Der Lieder-Dichter Leo Ferré ist tot. Ferner eine Karte für Angry Woman Live , Fr. 3. 9. 93, Tempodrom, und ein Porträt der kühlen Haydeé Politoff in dem Film Die Sammlerin ; sowie Chaplin als Tramp, eine Karte für das Peggy-Guggenheim-Museum, Venice, und das Foto einer Frau von hinten, die, einen Fuß auf einer Kloschüssel, den Rock hochgeschlagen, sich mit zwei Fingern in den Anus fasst; und auf dem hinteren Deckel noch einmal der Tramp, mit seinem kleinen entgeisterten Jungen bang um die Ecke schauend. Ein paar Beispiele von Aberhunderten.
    Das schwarze Album kommt in die Lade des Regals, neben die alten Briefe und Ansichtskarten an M., wie eine verspätete Reaktion in Bildern, die sein früheres Schweigen erklärt oder in Schutz nimmt – und es dem Absender der Briefe und Karten irgendwie möglich macht, das nie Beantwortete nachzulesen. Ein intimes Ermitteln in eigener Sache, das auch bei der eigenen Schrift beginnt – auf den Ansichtskarten stark verkleinert, um deren geringen Raum auszuschöpfen, bis an den Rand der Briefmarke und den Platz für die Empfängeradresse, und auf einer Karte, aus Cagayan de Oro, Mindanao, auch über diesen Rand der Erschöpfung hinaus. Die Karte ist über und über beschrieben, wie eine gänzlich tätowierte Haut, und es gibt eine präzise, geradezu physische Erinnerung an diesen Schreibvorgang an einem heißen Januartag auf den Stufen einer Kirche, während die eine Hälfte des Himmels fast dunkel und die andere gleißend hell war. »Einer wie Du«, steht auf der Karte, schon in Richtung der Anschriftzeilen, »verirrt sich auf diese Insel und wird von alten Missionaren aufgenommen, nur nicht aus reiner Freundlichkeit – sie wollen ihn auf ihre schöne Haushaltshilfe, in die sie alle heimlich verliebt sind, ansetzen, und am Ende haben sie eine wilde Liebesgeschichte unter ihrem Dach, die jeder auf seine Art protokolliert, Gruß B.« – eine zwanzig Jahre alte Karte, deren Inhalt mir noch nah ist, während der zehn Jahre ältere Brief, auf der kleinen, für die Dissertation angeschafften Olympia getippt, wie der von einem fernen Verwandten anmutet (so fern wie der Neffe aus Havanna), ein Brief, der zwar unbeantwortet blieb, den M. aber mit peniblen Unterstreichungen versehen hat, die erste nach einer halben Seite.
    »Für mich das Buch der Bücher im Moment: Der Wendepunkt von Klaus Mann.« Und dann folgende Stelle, doppelt unterstrichen: »Geistiges Verzweifeln hat auch eine körperliche Seite, in einer Einsamkeit der Haut; die Frage ist nur: Folgt unser Verzweifeln einem Diktat aus dem Hirn (Neurologie, Dein Fach), oder sind wir beide nur zu blödegescheit, um glücklich zu sein? Und wollte nicht Klaus Mann letztlich nur aus ganz Europa sein Tölzer Sommerhaus machen? Und warum hat er sich nicht gleich erschossen, am selben Tag wie sein geliebter Ricki? (diese irren deutschen Abschiedszeilen: Herr Wachtmeister, ich habe mich soeben erschossen!) Klaus Mann scheiterte an seiner politischen und sexuellen Ohnmacht; für das Gelingen blieb allein der Freitod, nur daß man den Erfolg da nicht mehr erlebt. Wäre ihm vielleicht mit einem neuen Liebhaber zu helfen gewesen, mehr als mit dem erhofften freien Europa? Laß mal demnächst von dir hören, Dein Bilabu.«
    Bilabu war M.s Abkürzung für Bilanzbuchhalter, er hatte mich früher oft so genannt, wenn ich ihm etwas vorhielt oder, wie er es sah, kleinlich vorrechnete, auch wenn er bei diesem Brief einzelne Posten der schriftlichen Vorhaltungen ebenso kleinlich unterstrichen oder mit Ausrufezeichen versehen hatte. Und solche Unterstreichungen finden sich dann auch in dem Brief aus den USA über das Candyman-Leben in den Vororten von Pittsburgh und den Überfall durch zwei Schwarze: »Habe fast in die Hose geschissen, als ich die Waffe am Kopf hatte«, ist dort dreimal unterstrichen; ebenso Geständnisse meiner Angst in Addis Abeba im Wagen eines humorlosen DDR-Geheimdienstlers und bei einer Vernehmung durch das Militär auf Mindanao, aber auch das Erwähnen einer tierischen Lust an der Seite des legendären Consuls Weyer im Beziehungslabyrinth von Asunción. Lust, Angst, Verzweiflung, Freitod – die Unterstreichungen werden in dieser Reihenfolge heftiger; und dennoch war M. kein Überläufer zum Tod, er war nur ein Wegläufer vor dem Leben,
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