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Ernten und Sterben (German Edition)

Ernten und Sterben (German Edition)

Titel: Ernten und Sterben (German Edition)
Autoren: Peter M Hetzel
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noch heute Autorität aus. Generationen junger Dorfbewohner war hier das Wissen mit dem Stock eingebläut worden, und in der angrenzenden kleinen Turnhalle hatten die strengen Pädagogen mit Leibesübungen noch aus jedem ungelenken Jüngling einen schneidigen Burschen geformt. In den heiligen Hallen des Turnvaters Jahn hatte Siegfried Aurich sein Atelier eingerichtet. Trotz seines bereits recht fortgeschrittenen Alters hielt er sich für die Inkarnation von Joseph Beuys und Andy Warhol. Deshalb sah es in seinem Atelier auch aus wie auf einem Schrottplatz für Landmaschinen-Ersatzteile, Hightech-Schnickschnack und Utensilien für die Malerei. Tag und Nacht wurde das Video »Ever Is Over All« von Pipilotti Rist an die Stirnseite der Halle projiziert.
    Was der Künstler so aufregend an dem Einschlagen von Autoscheiben fand, konnte er niemandem erklären, nicht einmal Gerda. Die angetraute Muse stand in ihrer XXL -Küche und hatte die Rührmaschine angeworfen. Mit der Ausstattung hätte sie locker jeder Großbäckerei Konkurrenz machen können. Ihr missionarischer Eifer war enorm. In Klein-Büchsen wurde sie einfach nur belächelt – aber auch toleriert, weil sie jeden Sonntag ihre Backwaren verschenkte. So konnte sie unbehelligt für einen besseren Tier- und Umweltschutz sowie für eine gerechtere Gesundheits- und Verteilungspolitik trommeln. Der Verzicht auf Lederschuhe und Wollpullover sorgte vor allem in der kalten Jahreszeit für Heiterkeit und sanften Spott. Gerda war es gewohnt, ihre Missionen allein zu planen und durchzuführen, während ihr genialer Ehemann auf die große Inspiration wartete und bei voller Lautstärke Wagner in der Fassung mit Plácido Domingo hörte.
    Bei der Zeile »Zieh hin, Wahnsinniger, zieh hin!« spürte Gerda zwei Hände um den Hals.
    »Ich hab jetzt keine Lust auf deine dominanten Spielchen. Ich wasch mich vor dem Sex«, rief Gerda und würgte.
    Ihr Peiniger verfügte über Bärenkräfte und drückte ihr langsam, aber unentrinnbar die Luft ab. Gerda röchelte, aber sie war fest entschlossen, diesen Angriff aus dem Nichts zu überleben. Doch nach einem Tritt des Angreifers in ihre rechte Kniekehle ging sie zu Boden, als würde sie in der Kirche die Kommunion empfangen. Jetzt war er ganz nah bei ihr und atmete ihr keuchend ins rechte Ohr.
    Gerda ruderte verzweifelt mit den Armen. Als junges Mädchen war sie Meisterin im Ringen gewesen, was man auch heute noch ihrer gedrungenen Statur ansah. Sie musste ihn entweder mit einer Körpertäuschung überrumpeln oder aber ihn an den Beinen erwischen. Sie spannte alle Muskeln an. Pures Adrenalin pumpte durch ihre Adern, während ihr Widersacher sich auf ihrem Rücken niederließ und ihren Kopf nach hinten biegen wollte. Dazu müsste er seinen Griff etwas lockern und ihr in die Haare fassen. Genau in diesem Moment drehte sich Gerda mit einer unvorhersehbaren Bewegung nach links, zog blitzartig die Beine an und trat ihrem Gegner mit voller Wucht vor die Brust. Er kippte nach hinten. Sie schnellte elastisch hoch und sprang mit beiden Beinen auf seinen Brustkasten. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wer ihr nach dem Leben trachtete. Der Kerl unter ihr trug die Guy-Fawkes-Maske der Anonymous-Bewegung.
    Was wollte denn die Internet-Guerilla von ihr? Sie war doch Mitglied der Piraten, schoss Gerda durch den Kopf.
    Es musste an der verinnerlichten Philosophie der Veganer liegen, dass sie den Killer nicht mit bloßen Fäusten traktierte. Anonymous nutzte diesen kurzen Moment der Schwäche und landete einen Treffer auf Gerdas Kinnspitze. Aber Schmerzen beeindruckten sie nicht im Geringsten. Mit aller Kraft versuchte sie, den Mann an seiner empfindlichsten Stelle zu erwischen, und setzte dazu ihre Knie ein. Aber die Gewichtsverlagerung hatte fatale Folgen. Anonymous warf Gerda zur Seite und damit von sich herunter. Sie schlug unglücklich mit dem Kopf gegen die Edelstahlverkleidung des Herdes und blieb benommen liegen.
    Er griff in ihre Haare und schleifte sie durch die halbe Küche in Richtung Rührmaschine. Gerda schrie wie am Spieß, sie brüllte nach Siegfried. Er war ihre letzte Hoffnung.
    Doch Siegfried war in das furiose Finale seiner Lieblingsoper versunken und sang lauthals mit. »›Brennender Zauber zückt mir ins Herz; feurige Angst fasst meine Augen: Mir schwankt und schwindelt der Sinn!‹.«
    Bei den letzten Worten griff Anonymous nach einer gusseisernen Pfanne, die praktischerweise über dem Herd hing. Er ließ Gerda los, die wie ein
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