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Erntedank

Erntedank

Titel: Erntedank
Autoren: Volker Michael; Klüpfel Kobr
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helfen, das grausige Bild in den Hintergrund zu drängen. Aber er fand nichts, wo er hätte einhaken können. Die Todesursache schien offensichtlich: die aufgeschnittene Kehle, das viele Blut, das … Er stockte: Er hatte einen Punkt gefunden, an dem er ansetzen konnte. Er öffnete die Augen. »Das Blut … «, sagte er leise zu sich selbst.
    »Respekt. Wir haben wesentlich länger gebraucht, um uns von dem Anblick zu erholen.«
    Der Kommissar zuckte zusammen, als er die Worte dicht neben seinem Ohr vernahm. Georg Böhm, der Pathologe, war unbemerkt neben ihn getreten. Er nahm seine Baseballkappe ab, fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes, dunkelbraunes Haar und zeigte mit der Kappe in Richtung der Leiche.
    »Wir meinen doch beide dasselbe, oder?«, fragte er.
    »Das Blut. Wo ist das Blut?«, antwortete Kluftinger mit Blick auf den Toten.
    Böhm schnalzte anerkennend mit der Zunge. »Abgesehen von dem, womit sich sein Kragen voll gesogen hat, haben wir nichts gefunden.«
    Kluftinger sah ihn entgeistert an.
    »Keinen Tropfen«, schob Böhm nach.
    Der Kommissar musterte den jungen Arzt. In seinen verwaschenen Jeans, seinen weißen Turnschuhen und der abgewetzten Cordjacke wirkte er irgendwie deplatziert. Ein Grund mehr, ihn sympathisch zu finden, dachte er.
    »Er ist also nicht hier ermordet worden«, folgerte er. Er überlegte kurz und fragte dann: »Gibt es irgendwelche Spuren? Von einem Wagen oder so? Irgendwie muss er ja hergekommen sein.«
    »Ist jetzt zwar nicht mein Metier, aber so viel ich weiß, hat man nichts gefunden.« Böhm hatte die Hände in den hinteren Hosentaschen vergraben und deutete mit dem Kopf auf die Leiche. »Willst du ihn dir nicht mal genauer anschauen? Ich würde ihn dann gern mitnehmen … «
    Kluftinger nickte. Er würde sowieso nicht darum herum kommen, also konnte er es genauso gut schnell hinter sich bringen. Seine Knie knackten, als er rechts von dem Toten in die Hocke ging. Mordopfer waren nichts allzu Ungewöhnliches für ihn, aber auch nicht tägliches Brot für einen Kriminaler im in dieser Hinsicht wirklich recht ruhigen Allgäu. Der Anblick einer Leiche brachte ihn jedenfalls immer aufs Neue aus der Ruhe. Das hier war außerdem anders als alles, was er bislang gesehen hatte. Er kämpfte eine Weile mit sich, dann gestand er es sich ein: Es war unheimlich. Der tote Vogel verlieh der Szenerie eine gespenstische Stimmung. Dazu kam, dass es ein zwar trockener, aber dunstiger Herbsttag war. Die trübe Atmosphäre mit den zaghaften Nebelschlieren, die langsam aus dem Boden krochen, ließen alles noch düsterer erscheinen.
    Kluftingers Blick wanderte das verschmutzte Hemd des Mannes weiter nach oben. Die rechte Hand ruhte auf einem viereckigen Blech, das offenbar einem großen Stein als Abdeckung diente. Sein Hemd sah aus, als hätte ihn jemand durch den Dreck gezogen. Die Spuren hätten allerdings auch von einem Kampf stammen können. Der Kommissar erhoffte sich von der Obduktion Aufschluss über diese Frage. Eine Antwort allerdings würde sie nicht geben können: Was sollte der Vogel, eine Krähe, auf der Brust des Opfers? Jemand hatte ihn dort sorgfaltig drapiert: mit gespreizten Flügeln, den Kopf zur Seite gedreht. Was hatte das zu bedeuten? Kluftinger schüttelte den Kopf. Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass das hier eine Nummer zu groß für ihn war.
    Er betrachtete nun die Halswunde. Ein sauberer Schnitt war das. Und ziemlich tief. Jemand musste ein scharfes Messer zur Hand gehabt haben. Das Gesicht des Mannes wies einige Schürfwunden auf, auf der Stirn hatte er eine kleine Platzwunde und in den schütteren, dunklen Haaren klebte Dreck. Weitere Einzelheiten konnte er nicht erkennen, denn der Kopf der Leiche war von ihm abgewandt. Er näherte sich mit seiner Hand dem Gesicht, um den Kopf herumzudrehen, machte aber mitten in der Bewegung halt. Er wollte den Mann nicht anfassen. Er hätte das bei keiner Leiche machen wollen. Und bei dieser hier schon gar nicht.
    Er blickte sich Hilfe suchend um. Böhm stand ein paar Schritte hinter ihm. Er verstand und nickte dem Kommissar zu. Als er sich auf der anderen Seite der Leiche ebenfalls hingehockt hatte, griff er ans Kinn des Toten. Mit einem »Nicht erschrecken« drehte er das Gesicht des Mannes nach oben.
    Es nützte nichts, der Kommissar erschrak trotzdem. Das heißt: Eigentlich krampfte sich sein Magen so stark zusammen, dass er Mühe hatte, seinen Inhalt nicht Preis zu geben. Das rechte Auge des Toten war nicht mehr
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