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Erbschuld: Psychothriller (German Edition)

Erbschuld: Psychothriller (German Edition)

Titel: Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Autoren: Kitty Sewell
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Gefühl, mindestens eine Tonne Bauholz geschleppt zu haben. Zuletzt holte er seinen neuen Akkuschrauber, eine Säge, den Zimmermannshammer und das Maßband. Den Beutel mit den rostfreien Schrauben steckte er in seine hintere Hosentasche. Seit einem Jahr hatte er die Reparatur des Baumhauses vor sich hergeschoben, nun war Schluss mit den Ausflüchten. Stamm und Äste waren im Laufe der Jahre gewachsen und hatten das Holz der Konstruktion an vielen Stellen gesprengt. Das Betreten des Baumhauses war gefährlich geworden.
    Er löste zunächst einige alte Bretter, die ausgebleicht und gerissen waren. Die Nägel waren durchgerostet, sodass sie einfach abbrachen. Er arbeitete sich von oben nach unten vor, weil es ihm weniger Furcht einflößte, wenn er auf diese Weise vorging. Obwohl ihn das dichte Blätterdach vor der Sonne schützte, war sein Rücken schweißgebadet.
    Über zehn Jahre hatte er die Plattform genutzt und die Aussicht bewundert, die Garnelenflotte, die Segelboote und die Kreuzfahrtschiffe ein- und ausfahren sehen. Er bildete sich sogar ein, an klaren Tagen die ferne Küstenlinie Kubas ausmachen zu können. Hier hatte er ein Mädchen geliebt, übernachtet, gearbeitet und für die Schule gelernt. Er war sogar einmal während eines nicht ganz so heftigen Tropensturms im Baumhaus geblieben, weil er seine Angst vor Hurrikanen überwinden wollte, und hatte es bitter bereut. Man sah den Schornstein des Hausboots seiner Mutter, wenn man wusste, wo genau man ihn suchen musste. Er hatte angeregt, sie solle eine englische Flagge hissen, damit er wisse, wann sie daheim war.
    Auf der Plattform standen zwei Liegestühle, und häufig lud er Madeleine ein, nach oben zu kommen, um den Sonnenuntergang zu bewundern. Dann brachte sie für sich einen Mojito und für ihn eine Cola mit. In letzter Zeit hatte sie auch für ihn einen Mojito gemixt, und ihre Gespräche über die Kunst, das Leben und seine spirituellen Geheimnisse waren umso angeregter verlaufen.
    Als er den Boden der Plattform zur Hälfte fertig hatte, knarrte unten das Tor. Madeleine kam auf ihrem alten Fahrrad angeradelt, ihren grau melierten Lockenschopf unordentlich am Hinterkopf zusammengesteckt. Sie lehnte das Fahrrad an die Veranda und verschwand in ihrem Atelier. Wenn sie sich so zielstrebig und geschäftig bewegte, machte er sich gar nicht erst die Mühe, ihr einen Gruß zuzurufen. Zwischen ihnen bestand die schweigende Abmachung, tagsüber zu arbeiten und sich nur ausnahmsweise zu unterhalten. Seit er sein Studium abgeschlossen hatte, war sein Leben anders geworden. Man musste eine unglaubliche Disziplin aufbringen, wenn man beim Malen ganz auf sich gestellt war.
    »Sascha, verdammt, du passt doch hoffentlich auf?«
    Er unterbrach sein Hämmern und sah vom Rand der Plattform zu ihr hinunter. Madeleine stand zwischen den Wurzelsäulen und blickte zu ihm hinauf. Napoleon sprang um sie herum.
    »Achtung, Holz!«, schrie er, so laut er konnte. »Weg da, Hunde und Schildkröten. Du auch, Madeleine.« Er schleuderte ein verfaultes Brett auf einen Haufen alter Bretter im Garten.
    Madeleine gab sich Mühe, eine strenge Miene zur Schau zu tragen, musste aber lächeln. Mit einem Kopfschütteln ging sie zurück in ihr Atelier. Ihr Gang erinnerte ihn immer an Rachel. Kein Wunder, denn sie waren schließlich Mutter und Tochter.
    Er legte den Hammer zur Seite und betastete den kleinen Glasflakon an der Kette um seinen Hals. Am Sonnenstand erkannte er, dass es Zeit war aufzubrechen. Er freute sich auf das Abendessen, das ihn zweimal die Woche im Hausboot erwartete, denn es war die einzige Gelegenheit, ein englisches Essen vorgesetzt zu bekommen. England! Nie wieder würde er seinen Fuß in das trostlose, nasse Land setzen, an das er nur trübe Erinnerungen hatte. Seine Kindheit hatte er in Angst verbracht, und er wollte lieber vergessen, warum. Sein Leben war nun strahlend Orange, Blau und rein Weiß, und er hielt es für besser, diese hellen Farben erst dann zu trüben, wenn er alt genug war, um mit der dunklen Seite des Lebens umzugehen.
    Nach einer kurzen Dusche nahm er eine Flasche Rosé vom Regal in der Küche und legte sie in seinen Fahrradkorb. »Bis später, Granny-Baby«, rief er übermütig und ließ seine Fahrradklingel ertönen.
    Madeleines Gesicht erschien im Atelierfenster. »Viel Spaß«, rief sie. »Einen schönen Gruß.«
    Die Luft fühlte sich besonders feucht und schwül an, als er durch die Straßen radelte. Es war windstill, aber er wusste, dass sich
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