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Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes
Autoren: Karin Jäckel
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Grübelei war, hatte ich verschlafen.
    »Entschuldige, Max. Ich hab’s vermasselt. Es soll nicht wieder Vorkommen.« Beschämt versuchte ich, gut Wetter zu machen.
    Max schwieg. Schon wieder diese Bestrafung durch Rückzug, Schweigen, Ausgrenzung, Ignoranz. Wie hatte ich das schon an Frederic gehasst und gefürchtet! Fast hätte ich mich nach Estefania oder einem der anderen Mädchen umgeschaut, die er in solchen Momenten mir vorzuziehen pflegte.
    Als hätte er aus meinen Gedanken ein Stichwort erhalten, griff Max zu seinem Mobiltelefon. Eine SMS war gekommen. Flink tippten seine Finger eine Antwort. Ich war gar nicht mehr vorhanden.

    »Was, wenn ich aufgestanden und einfach gegangen wäre?«, frage ich mich manchmal und spiele in Gedanken die veränderte Szene durch. Im Ergebnis wäre Max nur weiter von mir abgedriftet. Niemals würde er sich überwunden haben, den ersten Schritt auf mich zuzugehen. Wahrscheinlich hätte er nicht einmal begriffen, dass er sich mir gegenüber im Unrecht befunden haben könnte. So, wie er seine Schuld nur bedingt einsehen und annehmen konnte, kleine Kinder sexuell missbraucht zu haben, so würde er auch jetzt ausschließlich bei mir die Schuld für das misslungene gemeinsame Frühstück suchen. Schließlich war er nicht zu spät gekommen. Er hatte mir seine kostbare Zeit zur Verfügung gestellt. Ich hatte mich dessen unwürdig erwiesen. Was also beklagte ich mich, dass er mir keine weitere Zeit schenkte? Sollte er etwa der schlechten Zeit gute hinterherschmeißen?
    Für mich war immer die Liebe das Größte, die Nähe, die man einander schenkt, das Füreinander-da-Sein. Gefühle, die für Max zum »heiligen Gral« des Einzelnen gehörten und nicht mitteilbar waren.
    Ein Beispiel seiner im Tresor der Seele verschlossenen Heiligtümer war seine Unfähigkeit zum tiefen Mitleid oder Mitgefühl. So hatte er mir auch seit seiner Haftentlassung eine Flut an Selbstporträts in jeder Lebenslage geschickt, mir aber nie auch nur ein einziges Mal gesagt: »Ich liebe dich, Cora.« Oder vielleicht: » Ich hab dich ganz arg lieb.«

    Hätte ich seine Äußerungen besser reflektiert, wäre mir vielleicht bewusst geworden, dass Max mit seinem Seelentresor gar nicht zum Geschenk der Liebe fähig war.
    Dass er mir seine Liebe nie gestand, war viel bedeutungsvoller, als mir je bewusst wurde. Zwar wünschte ich mir sehnlich, dass er mir seine Liebe einmal auch in Worte kleiden möge. Aber ich war bereit zu verstehen, dass er diese drei für einen Priester der Todsünde gleichkommenden Worte nicht so leicht über seine geweihten Lippen brachte. Irgendwann, eines Tages, glaubte ich, würde er es schaffen. Bis dahin würde ich mich mit den sichtbaren und spürbaren Zeichen seiner Liebe zufrieden geben.
    Dass Max mir seine Liebe nicht gestand, weil er sie nicht verspürte, wäre mir angesichts dieser Zeichen nie in den Sinn gekommen. Insofern begriff ich nicht, dass verschenkte Lebenszeit tatsächlich das Äußerste an Zuwendung war, was er für mich herzugeben bereit war. Vielleicht hätte ich mich sonst noch mehr darum bemüht, seine Zeit bis auf den allerkleinsten Sekundenbruchteil für mich zu beanspruchen und nicht auf einen davon zu verzichten. Seine mir schmollend entzogene, totgeschwiegene Zeit hätte ich dann jedenfalls nie und nimmermehr akzeptiert.

    Von Tag zu Tag stieg die Spannung zwischen uns. Immer beängstigender spürte ich, dass Max nicht wirklich bei mir war. »Das war doch schon so, als er noch Kaplan in unserer Pfarrei war«, versuchte ich die Panik vor einer Trennung zu beschwichtigen. »Das ist ein Wesenszug an ihm. Das hat nichts mit uns zu tun.«
    Aber meine Intuition ließ sich nicht betrügen. Wenn Max wollte, würde er mir sagen können, dass er mich liebte. Seine Zurückhaltung, sein Schweigen, seine Geistesabwesenheit konnten nur damit Zusammenhängen, dass er mit sich selbst uneins war.
    In seiner Zurückgezogenheit wirkte er nicht wirklich, als würde er schmollen oder grollen. Nachdenklich schien mir das passendere Wort. So, als schaue und lausche er ständig in sich hinein, um den Gordischen Knoten in seiner Seele an der richtigen Stelle zu durchtrennen. So als forsche er aus, wie er endlich aus seiner eigenen zu eng gewordenen Haut schlüpfen könne.

    Ich erinnerte mich an einen Absatz in einem seiner Briefe, in dem er mir seine Wunschliste für eines der Care-Pakete notierte, die ich ihm ins Freigängerheim schicken sollte. Neben Benjamin-Blümchen-Papier, auf dem er
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