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ePub: Der letzte Zauberlehrling

ePub: Der letzte Zauberlehrling

Titel: ePub: Der letzte Zauberlehrling
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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Bahnhof war eine wacklige Holzbaracke mitten zwischen den Feldern. Zweimal am Tag hielt hier ein Zug, der ebenso gebrechlich wirkte wie der Bahnhof selbst. Ich war vor acht Jahren hier angekommen, allerdings nicht aus Paris, sondern aus der entgegengesetzten Richtung.
    Tucker brachte sein Gefährt vor der Baracke zum Stehen. Er kletterte aus dem Führerhaus, legte den Kopf in den Nacken und drehte ihn hin und her. Dabei bewegten sich seine mächtigen Nasenflügel auf und ab.
    Tuckers gute Nase war überall bekannt. Er konnte den Rauch eines Feuers oder den Qualm einer Lokomotive kilometerweit riechen. »Dein Zug wird noch eine Weile brauchen«, erklärte er schließlich, als ich neben ihm stand. »Das Beste wird sein, du wartest direkt am Gleis. Es ist schon vorgekommen, dass Passagiere im Wartesaal saßen und der Lokomotivführer einfach vorbeigefahren ist, weil er niemanden gesehen hat.«
    Ich nickte stumm. Tucker spuckte braunen Tabaksaft auf den staubigen Weg und hielt mir seine Pranke hin.
    »Viel Glück, kleiner Humbert«, sagte er, während er meinen Arm auf und ab pumpte. »Und denk mal ab und zu an uns.«
    »Das werd ich«, stieß ich hervor. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und ich hatte Angst, zu viel zu sagen, denn sonst wären mir erneut die Tränen gekommen. Tucker hob meine Tasche von der Ladefläche, stellte sie neben mir ab und kletterte wieder auf seinen Sitz. Er schloss die Tür und winkte mir noch einmal zu. Dann wendete er den Wagen und fuhr ins Dorf zurück.
    Jetzt war ich wirklich ganz allein.
    Ich stand noch ein paar Minuten auf dem Vorplatz und blickte Tucker nach, bis sein Fahrzeug nur noch ein kleiner dunkler Fleck am Horizont war.
    Mit einem Seufzer nahm ich meine Tasche auf und betrat die Bahnhofsbaracke. Ich hätte ebenso gut um sie herum zum Gleis gehen können, aber ich war neugierig, wie es da drin aussah.
    Die verwitterte Eingangstür protestierte mit einem lauten Knarren, als ich sie aufstieß. Die Baracke bestand lediglich aus einem einzigen Raum. Auf der gegenüberliegenden Seite führte eine weitere Tür zum Gleis. Rechts davon stand eine Holzbank unter einem fingerdick mit Staub bedeckten Fenster, durch welches das Sonnenlicht nur stark gefiltert hereinfiel. Sie war das gesamte Mobiliar des Raums.
    Auf ihr saßen ein Junge und ein Mädchen. Der Junge las in einer Zeitung. Er blickte auf, als ich die Baracke betrat, und musterte mich mit kritischem Blick. Das Mädchen ließ ihr Buch sinken und folgte mir ebenfalls mit den Augen. Ich ließ die Tür hinter mir zufallen und trat langsam näher.
    Ich schätzte, sie waren etwa so alt wie ich, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre. Der Junge trug eine gebügelte helle Hose, ein ebenfalls gebügeltes Hemd und ein paar blank gewienerte Lederschuhe. Neben ihm auf der Bank stand eine Reisetasche, die so aussah, als sei sie gerade erst aus einem Schaufenster geholt worden. Das Mädchen hatte ein grünes Kleid an und auf ihren schulterlangen roten Haaren prangte ein breitkrempiger Sonnenhut. Ich blieb etwa einen Meter vor ihnen stehen. »Hallo«, grüßte ich.
    »Hallo«, erwiderte das Mädchen. Der Junge antwortete nicht, sondern ließ seinen Blick langsam an mir auf und ab wandern. Dann faltete er die Zeitung zusammen und legte sie neben sich auf die Bank.
    Der Wartesaal roch nach faulendem Holz. Meine fein gekleideten Gegenüber passten so gar nicht zu diesem Modergeruch, und es wunderte mich, dass sie sich mit ihren guten Kleidern überhaupt auf die Bank gesetzt hatten.
    »Fahrt ihr auch nach Paris?«, fragte ich.
    Der Junge sah mich an wie einen Hund, der trotz intensiven Trainings immer noch nicht gelernt hat, Männchen zu machen.
    »Nein, wir sitzen hier nur herum, weil wir nichts Besseres zu tun haben«, erwiderte er schließlich. Seine Stimme klang leicht nasal, so wie man spricht, wenn man teure Internate besucht hat. Zumindest hatte Tucker mir das so erklärt. Mir wurde bewusst, dass nahezu alles, was ich über die Welt außerhalb unseres Dorfes wusste, ausschließlich auf Tuckers Auskünften basierte. Gordius hatte keine Zeitung abonniert, denn er interessierte sich nur wenig für das, was in der Welt vor sich ging.
    Der Junge riss mich aus meinen Gedanken. »Natürlich fahren wir nach Paris. Oder gibt es noch andere Züge, die hier halten und von denen ich nichts weiß?«
    Ich wusste nicht, ob ich mich ärgern oder lachen sollte. Was bildete dieser Schnösel sich ein? Das Mädchen musste erkannt haben, wie ich mich
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