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Enwor 6 - Die Rückkehr der Götter

Enwor 6 - Die Rückkehr der Götter

Titel: Enwor 6 - Die Rückkehr der Götter
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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zeitlos wie die strengen Rechtecke und Geraden, aus denen der Tempel zusammengefügt war, von tiefen Falten und Linien durchzogen und so bleich, wie das Gesicht eines Menschen nun einmal war, der niemals die Sonne sah. Aber Skar war sich nicht sicher, daß es Linien waren, die das Alter hineingegraben hatte. Vielleicht war es etwas anderes. Wenn, so wollte er nicht wissen, was es war.
    Der Prediger wandte sich um, trat an den Gebetsstein und tat etwas, das Skar nicht erkennen konnte. Als er sich wieder zu ihm herumdrehte, waren seine Hände nicht mehr leer.
    »Es ist gut, daß du Angst hast, Satai«, sagte er noch einmal, und zum ersten Mal, seit Skar ihm begegnet war, glaubte er etwas wie eine menschliche Regung in seiner Stimme zu erkennen. Mitleid. Mitleid? »Nur wer die Furcht kennt, kann sie auch bezwingen. Trink.
    Skar nahm gehorsam die Schale aus den Händen des Alten entgegen. Sie war schwer und so kalt, daß seine Finger zu prickeln begannen. Langsam setzte er sie an die Lippen. Aber er trank noch nicht. Plötzlich, als schrien alle seine Sinne verzweifelt auf und griffen — ein letztes Mal — gierig nach der Welt, von der sie während der letzten Tage Stück für Stück abgeschnitten worden waren, nahm er alles um sich herum mit einer übernatürlichen Klarheit und Schärfe wahr. Die Kälte, die Boden, Wände und Decke verströmten wie einen eisigen Atem, die winzigen Unebenheiten unter seinen nackten Füßen, die dunklen verzweigten Linien im Gesicht des Predigers, den sterilen Geruch nach Erde und Stein, der den unterirdischen Tempel erfüllte, das Knistern der Flammen im Feuerloch, die kühle Glätte der Schale in seinen Fingern, und tausend andere Dinge.
    Sein Blick suchte noch einmal das steinerne Bett am anderen Ende der Kammer, und das Gefühl in ihm, von dem er noch immer nicht wußte, was es war, verstärkte sich zu quälendem Schmerz.
    Das Kind lag reglos, als schliefe es, obwohl seine Augen offenstanden. Zu Anfang hatte es viel geschrien und mit den Beinen gestrampelt, aber seine Bewegungen waren jedes Mal, wenn Skar kam und es sah, matter geworden, sein Schreien kraftloser und leiser. Vielleicht war es tot.
    »Ihr habt ihm... einen Namen gegeben?« fragte er stockend.
    Der Prediger lächelte. »Es braucht keinen Namen, Skar. Niemand, der hier lebt, braucht einen Namen. Auch ich habe keinen.«
    Skar nickte, setzte die Schale abermals an die Lippen und senkte sie wieder, ohne getrunken zu haben. »Es wäre mir lieber, wenn es einen Namen hätte«, sagte er. Er wußte selbst nicht genau, warum er diese Worte sprach. Und trotzdem war es vielleicht das erste Mal, seit er hier herunter gekommen war, daß er etwas mit Nachdruck sagte.
    Der Prediger blickte ihn aus seinen unergründlichen Augen an. »Sein Name ist Tod, Satai.«
    Zorn flammte in Skar auf, aber nur für einen Moment. »Ich bin hier, damit es nicht so kommt«, sagte er. Es fiel ihm schwer, aber er hielt dem Blick des Alten stand; diesmal.
    »Es geht nicht«, sagte der Prediger. »Wie könnten wir ihm einen Namen geben, wenn wir nicht wissen, wer er ist? Namen engen ein. Sie sind schädlich. Sie legen Dinge fest, die noch nicht bestehen. Sie formen das Ungeformte. Unser Glaube verbietet uns, Namen zu tragen, und es ist eine weise Entscheidung. Du kannst ihm einen Namen geben, wenn alles vorüber ist.
    Für einen Moment regte sich noch einmal Widerstand in Skar, aber er erlosch auch diesmal so schnell, wie er kam. Er war nur noch müde. Er wollte es hinter sich bringen, so schnell er konnte. Er hatte zu lange gekämpft.
    »Ich verstehe dich, Satai«, fuhr der Prediger fort. »Glaube
    nicht, daß wir grausam sind. Ich weiß, daß die Menschen Angst vor uns haben und uns für grausam und böse halten. Aber das stimmt nicht. Ich begreife deine Qual, und ich teile sie. Du hast ihm das Leben gegeben, und du hast gekämpft wie nie ein Mensch zuvor, um es zu schützen. Jetzt wirst du es vielleicht töten müssen, obgleich es ein Teil deiner selbst ist. Alles, was du ihm noch geben zu können glaubst, ist ein Name.«
    Skar starrte den Alten verwirrt an. Las er seine Gedanken?
    Oder war es so leicht, sie auf seinen Zügen zu erkennen? Er erschrak. Wieder spürte er diese Schwäche, eine Erschöpfung, die nichts mehr mit körperlicher Müdigkeit zu tun hatte. >Sein Name ist Tod<, hatte der Prediger gesagt. Aber war das nicht in Wahrheit sein eigener Name? Standen nicht Furcht und Angst in den Augen der Menschen, wenn sie über ihn sprachen ?
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