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Entscheide dich, sagt die Liebe

Entscheide dich, sagt die Liebe

Titel: Entscheide dich, sagt die Liebe
Autoren: Siri Goldberg
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erschöpft wie das Händegeschüttel und die Beileidsbezeugungen all dieser Leute, die sie nicht kannte. Halb Salzburg war auf den Beinen gewesen, um Maestro Prachensky die letzte Ehre zu erweisen. Darunter gab es nur wenige Menschen, die ihm etwas bedeutet hatten. Die meisten Begräbnisteilnehmer – Kulturschaffende, Geschäftsmänner und -frauen, Promis und Möchtegernpromis – waren gekommen, weil sie grundsätzlich keine Gelegenheit ausließen, um sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.
    Paps hat es bestimmt gefallen, besonders die Kutschenfahrt mit den Rappen und natürlich die Musik! Sofern er es denn von irgendeiner Warte aus beobachten konnte. Aus einer anderen Dimension vielleicht? Als Teil ihrer eigenen Seele?
    Amelie war überzeugt davon, dass er immer auf Clara aufpassen würde, wie eine Art Schutzengel. Clara beneidete sie um diese naive Vorstellung vom Jenseits. Sie selbst wollte sich in Sachen Glauben nicht festlegen. Mal sehen, was Gott noch zu bieten hat, dachte sie. Ob er es sich verdiente, dass man ihm so viele prunkvolle Häuser baute und ihn anbetete? Oder ob man sich für ihn und seine grausame Apathie schämen musste?
    Lieber noch als über Gott und das Leben nach dem Tod hätte Clara über ihren Vater gesprochen. Aber mit wem? Freunde hatte sie nicht, und mit Amelie konnte man über dieses Thema nicht vernünftig diskutieren. Clara bekam immer nur dieselben Phrasen zu hören: Ihr Paps sei ein großartiger Mann gewesen, ein fantastischer Dirigent, ein herzensguter Vater. Dabei hatte sie das merkwürdige Gefühl, dass Amelie eine Mauer hochzog, hinter der sie ihre wahre Meinung verbarg.
    »Erzähl mir von ihm. Sag mir, was du über ihn denkst«, probierte Clara es wieder, als sie gemeinsam beim Frühstück saßen.
    »Aber Kind, ich weiß doch auch nicht mehr als du. Übrigens, es gibt heute Mittag Tafelspitz mit Karotten und grünen Bohnen. Ist dir das recht?«
    »Sicher.« Tafelspitz, vor allem Amelies Tafelspitz, gehörte zu Claras Lieblingsspeisen. »Aber ich habe keinen großen Hunger.«
    »Du musst mehr essen, Kind. Wie dünn du geworden bist!« Amelie schlug die Hände zusammen und das Gespräch über Paps war beendet und hatte den üblichen Verlauf genommen.
    Clara zuckte mit den Schultern. »Ich falle schon nicht vom Fleisch.« Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und spielte eine halbe Stunde lang Skalen in allen Tonarten. Zwei Stunden lang beschäftigte sie sich mit einer Etüde von Chopin, die ihrer rechten Hand alles abverlangte. Als diese daraufhin so heftig zu schmerzen begann, dass Clara es nicht länger ignorieren konnte, übte sie das Klavierkonzert für die linke Hand von Maurice Ravel, während die überbeanspruchte Rechte auf ihrem Oberschenkel lag und ausruhte.
    Seit dem Tod ihres Vaters arbeitete Clara härter denn je. Neun Stunden täglich saß sie am Flügel. Sich in Arbeit zu stürzen war ihre Art, mit dem Geschehenen fertigzuwerden. Wenn sie schon mit niemandem über ihre Trauer sprechen konnte, dann wollte sie sie ertränken. Am besten in Musik. Außerdem wollte sie Paps stolz machen und die Nummer eins der Nachwuchspianisten werden. Mit dem ersten Preis beim Busoni-Wettbewerb war sie auf dem besten Weg dorthin. Aber ein zweiter Sieg würde sie noch weiter an die Spitze katapultieren. Also meldete sie sich zum Clara-Haskil-Wettbewerb an.
    Sie trieb technische Studien, sie erweiterte ihr Repertoire um einige äußerst schwierige Konzerte, Sonaten und Etüden. Wie eine Besessene jagte sie ihre Finger über die Tasten, bis die Fingerkuppen eine Hornhaut ausbildeten.
    Nachts trug sie Kühlgel auf ihre Arme auf und zog einen abgeschnittenen Strumpf darüber, um einer Sehnenscheidenentzündung vorzubeugen. Sie schottete sich von der Außenwelt ab, empfing keine Besuche, ging nicht aus dem Haus. Nur Amelie durfte es wagen, sie zu stören. Was sie auch regelmäßig tat, meistens zu den Essenszeiten.
    Als es also gegen Mittag klopfte, wusste Clara schon im Voraus, was sie erwartete.
    »Der Tafelspitz ist fertig, mein Kind!«
    »Ich habe noch gar keinen Appetit.«
    »Du musst etwas essen. Ich werde nicht zulassen, dass du krank wirst.«
    Clara verdrehte die Augen und schlurfte ins Esszimmer. Während Amelie eine große Portion des gekochten Rindfleisches mit Bratkartoffeln und Gemüse verdrückte, würgte Clara ein paar Bissen hinunter, um es sich nicht mit ihrer ehemaligen Kinderfrau zu verscherzen. Es lag ja wirklich nicht an ihr, sie hatte wie immer mit Liebe und
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