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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen
Autoren: Tania Carver
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Fragen?«
    Sie hatten keine.
    Phil musterte die beiden. Er hatte sie persönlich für sein Ermittlerteam ausgewählt, und sie hatten tagtäglich mit Mord und Gewaltverbrechen zu tun. Sie vertrauten einander, und die heimlichen Blicke zwischen ihnen, die er vorhin mitbekommen hatte, würden daran nichts ändern. Prüfend blickte er in ihre Gesichter und sah nichts als Entschlossenheit darin. Sie mussten einen Doppelmörder fassen und ein Neugeborenes finden, bevor es starb - wenn es überhaupt noch am Leben war. Für die nächste Zeit würde keiner von ihnen nach Hause kommen. Er spürte den Anflug eines schlechten Gewissens und fragte sich, wie seine Kollegen das wohl aufnehmen würden. Er konnte es sich ausmalen.
    Er verdrängte den Gedanken. Damit würde er sich später herumschlagen.
    »Also gut«, sagte er. »Lassen Sie uns anfangen. Wir haben jede Menge Arbeit vor uns.«
    Dann verließ er, so schnell er konnte, die Wohnung.
     

5
     
    Phil stand draußen vor dem Apartmentgebäude und suchte nach seinem Handy, während er die Klettverschlüsse seines Papieroveralls aufriss. Annis Worte kamen ihm in den Sinn:
Wir sind hier in Colchester ...
    Colchester. Der letzte Außenposten von Essex, bevor es zu Suffolk wurde. Wenn der Himmel, wie David Byrne einst gesungen hatte, ein Ort war, an dem nie etwas passierte, dann hatten der Himmel und Colchester eine Menge gemeinsam. Aber wie Phil nur zu gut wusste, konnte es selbst an solchen Orten irgendwann mit der Idylle vorbei sein.
    Er sah sich um. Claire Fieldings Wohnung befand sich im Parkside Quarter, das an den Fluss, das Dutch Quarter und Castle Park grenzte. Das Dutch Quarter mit seinen verwinkelten Gassen und den Fachwerkhäusern aus dem sechzehnten Jahrhundert lag zwischen der High Street und dem Fluss. Als Stadtteil mit dörflichem Charakter konnte die selbsternannte Hochburg der Bohemiens von Colchester nicht nur eine Vielzahl von Kopfsteinpflasterstraßen und Eckkneipen, sondern sogar einen eigenen Schwulenclub vorweisen.
    Parkside Quarter dagegen war eine Siedlung neueren Datums mit Stadthäusern und Apartmentblocks, deren historisch angehauchte hölzerne Türmchen und Fensterläden sich, dem Willen der Planer nach, in das Bild der älteren Gebäude harmonisch hätten einfügen sollen, in Wirklichkeit jedoch wie deren billige Spielzeugversionen aussahen.
    Phil stand auf dem Fußweg am Fluss, wo Trauerweiden die Sonne abschirmten und fleckige Schattenspiele auf den Boden warfen. Über diesen Pfad liefen tagtäglich Jogger und Mütter mit Kinderwagen zum Castle Park und wieder zurück. Direkt am gegenüberliegenden Ufer standen mehrere malerische alte Reihenhäuser. Dahinter lag die North Station Road, die Hauptverkehrsader, die den Bahnhof mit dem Stadtzentrum verband. Alles schien so normal, so friedlich. Als wäre nichts geschehen.
    Aber an diesem Tag würde es im Dutch Quarter still bleiben, und auf dem Weg am Fluss würden keine Jogger oder Mütter unterwegs sein. Schon jetzt krochen Polizisten auf Händen und Knien herum und suchten die Gegend nach Spuren ab. Phil schaute auf den Boden. Hoffentlich trugen sie widerstandsfähige Handschuhe. Verbeulte Bierdosen und Ciderflaschen aus Plastik lagen überall herum und wirkten wie abstrakte Skulpturen. Hier und da ein benutztes Kondom. Weniger Spritzen als früher, aber natürlich bedeutete das nicht, dass auch weniger Drogen konsumiert wurden.
    Phils Blick wanderte schließlich zur Brücke hinüber, wo einige Passanten aus der Sicherheit ihrer sorgenfreien Welt neugierig herüberblickten. Pendler mit Cappuccinobechern, Handys und Tageszeitungen in der Hand, die auf dem Weg den Hügel hinauf stehengeblieben waren, um das Treiben unten zu beobachten, angelockt vom gelben Absperrband der Polizei. Sie waren wie Elstern, die in der Ferne etwas silbern Blitzendes erspäht hatten.
    Phil schenkte ihnen keine weitere Beachtung, sondern konzentrierte sich stattdessen darauf, aus seinem Papieroverall zu kommen. Während er damit beschäftigt war, erhaschte er in einem Fenster der Erdgeschosswohnung einen Blick auf sein Spiegelbild. Er war groß, etwa eins fünfundachtzig, und sein Körper war leidlich gut in Form. Kein Bierbauch, keine Speckrollen. Er legte Wert darauf, sich fit zu halten. Nicht weil er eitel war, sondern weil sein Beruf lange Arbeitszeiten, häufigen Fast-Food-Konsum und, wenn man nicht aufpasste, ein Übermaß an Alkohol mit sich brachte. Es wäre allzu einfach gewesen, dem zu erliegen, wie er es bei so
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