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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten
Autoren: B Akunin
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meine Obliegenheiten machten es notwendig) und ging mit Mademoiselle sehr förmlich um. Aber das hielt nicht lange vor. Sie kam zu mir und bat mich mit untadeliger Höflichkeit, ihr bei der Aneignung der russischen Sprache behilflich zu sein, das heißt, mich mit ihr über verschiedene Themen zu unterhalten und ihre gröbsten Fehler zu korrigieren. Ich wiederhole, die Bitte wurde so respektvoll vorgebracht, daß ich unmöglich ablehnen konnte.
    Von daher rührte die Tradition unserer täglichen Gespräche – über völlig neutrale und unverfängliche Themen. Mademoiselle lernte erstaunlich rasch Russisch und hatte schon bald einen hübschen Wortschatz. Natürlich machte sie grammatikalische Fehler, aber darin lag ein Reiz, dem ich mich nicht immer entziehen konnte.
    Als wir nun die Allee des Neskutschny-Parks entlanggingen, sprachen wir Russisch. Doch diesmal war unsere Unterhaltung kurz und spitz. Mademoiselle hatte sich nämlich zur Ausfahrt verspätet, und wir mußten in der Kutsche auf sie warten, ganze dreißig Sekunden (wie ich auf meinem Schweizer Chronometer feststellte). In Gegenwart Ihrer Hoheiten hatte ich mich beherrscht, aber jetzt, unter vierAugen, hielt ich es für notwendig, ihr eine kleine Strafpredigt zu halten. Es fiel mir schwer, Mademoiselle zu rügen, aber es war meine Pflicht. Niemand darf Angehörige der kaiserlichen Familie warten lassen, nicht einmal eine halbe Minute.
    »Es ist doch überhaupt nicht schwer, pünktlich zu sein«, sagte ich, jedes Wort deutlich aussprechend, damit sie mich verstand. »Man muß lediglich fünfzehn Minuten Zeitvorsprung einkalkulieren. Nehmen wir an, Sie sind mit jemandem um drei verabredet, also sind Sie schon um dreiviertel drei da. Oder Sie müssen, um zu einem bestimmten Punkt zu gelangen, um zwei das Haus verlassen, aber Sie verlassen es schon um dreiviertel zwei. Für den Anfang rate ich Ihnen, die Uhr einfach eine Viertelstunde vorzustellen, später geht Ihnen die Pünktlichkeit in Fleisch und Blut über.«
    Ich sprach sachlich und vernünftig, doch Mademoiselle antwortete mir schnippisch: »Err Sjukin, vielleischt isch stelle die Ühr ein albe Minüt vor? Denn mehr als ein albe Minüt isch verspäte mich nie.«
    Nach dieser Antwort machte ich ein finsteres Gesicht und sagte nichts mehr. Schweigend gingen wir weiter, Mademoiselle drehte sich sogar noch von mir weg.
    Großfürstin Xenia erzählte ihrem Bruder ein Märchen, ich glaube, »Chapeau Rouge« 2 , jedenfalls fing ich die Worte auf: »Et elle est allée à travers la forêt pour voir sa grandmaman.« 3 Großfürst Michail, sehr stolz auf seinen neuen Matrosenanzug , bemühte sich um ein manierliches Betragen und machte fast keinen Unfug, hüpfte nur hin und wieder auf einem Bein und warf einmal sein blaues Mützchen mit der roten Bommel auf die Erde.
    Trotz des trüben Wetters waren vereinzelte Spaziergänger auf den Wegen. Mein Moskauer Gehilfe hatte mir erklärt, daß der Park gewöhnlich nicht für die Allgemeinheit zugänglich sei und daß die Tore nur anläßlich der Feierlichkeiten geöffnet waren, und auch nur für ein paar Tage, bis zum neunten Mai, an dem das Kaiserpaar, vom Petrowski-Schloß kommend, hier entlangfahren würde. So war es nicht verwunderlich, daß manche Moskauer die seltene Gelegenheit nutzten, im Park spazierenzugehen, und sich auch nicht von dem schlechten Wetter abschrecken ließen.
    Etwa auf halbem Weg zur Eremitage kam uns ein eleganter Herr mittleren Alters entgegen. Er lüpfte höflich den Zylinder, der glattes schwarzes Haar mit weißen Schläfen freigab, warf einen forschenden, doch nicht aufdringlichen Blick auf die Großfürstin und ging vorbei. Ich würde diesen Mann überhaupt nicht beachtet haben, wenn Ihre Hoheit sich nicht plötzlich umgedreht und ihm nachgeblickt hätte, und dann auch Mademoiselle Déclic. Da wandte auch ich mich um.
    Der vornehme Herr ging gemächlich weiter und schwenkte seinen Spazierstock – ich konnte an ihm nichts entdecken, was die Großfürstin und die Gouvernante bewogen haben mochte, sich nach ihm umzudrehen. Da holte uns ein Mann von wahrlich bemerkenswertem Aussehen ein: breitschultrig, stämmig, mit struppigem Bart. Er versengte mich mit seinen grimmigen kohlschwarzen Augen und pfiffelte ein mir unbekanntes Liedchen.
    Ein verdächtiges Subjekt, und ich nahm mir vor, nicht mehr mit Ihren Hoheiten im Park spazierenzugehen, solange er für alle geöffnet war. Wer weiß, was für – Pardon – Lumpengesindel sich hier ein
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