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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Autoren: Karim Miské
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dagelassen, was, wie sich bald herausstellte, kein besonders weiser Entschluss war. Kaum eine Woche später wurde mein Kunde nämlich von einem anderen Serben niedergeschossen. Es ging um irgendwelche finsteren Machenschaften in der Heimat, die ihn hier eingeholt haben. Jedenfalls habe ich die Waffe behalten, weil ich mir sagte, dass sie noch jemandem sein Leben schuldet. Und du bist der einzige Mensch in meinem Umfeld, der dringend Schutz braucht.«
    »Aber ich will sie nicht benutzen. Außerdem habe ich noch nie im Leben geschossen.«
    »Ich kann dich natürlich nicht zwingen. Ich weiß nicht, warum, aber die Vorstellung, dich in Bezug auf Sam, Moktar und dieser ganzen Mischpoke unbewaffnet zu wissen, gefällt mir einfach nicht. Nimm sie. Ich weiß, ich bin ein alter Anarchist, und es kommt dir vielleicht merkwürdig vor, aber ich halte dieses Ding für geradezu mystisch. Diese Pistole – wie soll ich sagen? –, sie wird das Notwendige tun.«
    Ahmed kehrte mit der Glock, einer Dose Käseravioli aus dem Supermarkt und einem Telefon aus dem Handyladen in seine Wohnung zurück, wo Mohamed auf dem Teppich lag und tief und fest schlief. Auch Ahmed streckte sich aus und schlief binnen weniger Sekunden ein. Als er wieder erwachte, stand sein Cousin auf dem Balkon und rauchte unter dem Sternenhimmel. Um dreiundzwanzig Uhr rief Ahmed wie vereinbart bei Rachel an und hinterließ seine neue Handynummer auf ihrem Anrufbeantworter.
    Mitten in der Nacht bestaunen die beiden Cousins nun die Glock sowie ihr Schicksal. Mohamed hat viel geredet und Ahmed sein ganz banales Geheimnis anvertraut: Er will die von seiner Mutter ausgesuchte Verlobte nicht, weil er sich nicht für Frauen interessiert. Ganz einfach. Er hat Ahmed auch gesagt, dass er die Neigungen seines Onkels seit vielen Jahren kennt und nicht die geringste Lust hat, in der Lüge einer Deckmantel-Ehe zu leben. Seine Mutter weiß natürlich Bescheid. Sie kennt ihren Sohn. Seine Homosexualität ist ihr völlig egal, solange er bei dem Spiel mitmacht. Nämlich Kinder zu produzieren. Bis zu einem gewissen Punkt versteht Mohamed sie sogar, aber er erträgt es nicht, dass sie offenbar nicht den geringsten Skrupel hat, das Unglück einer naiven, jungen Frau in Kauf zu nehmen, die er nie wird lieben oder befriedigen können. Diese Grausamkeit geht ihm gegen den Strich. Und alles nur wegen des Namens, der Familie und der Fortsetzung von irgendetwas. Fuck!
    Ahmed lernt einen völlig neuen Menschen kennen und ist darüber sehr glücklich. Nie hätte er sich träumen lassen, einem falschen Cousin aus der alten Heimat einmal so nahezustehen. Es versöhnt ihn mit dem unbekannten Teil in seinem Innern. Mit dem Land seiner Vorfahren, das schließlich doch nicht so fern ist, wie er immer geglaubt hat. Auf schicksalhafte Weise und über viele Umwege ist er zu dem Bruder gekommen, der ihm zeitlebens gefehlt hat.
    Halb fünf. Beide finden keinen Schlaf. Die Hitze steht in den Straßen und lockt sie nach draußen. Ahmed überredet seinen Cousin, Bruder, Mitmenschen zu einem Nachtspaziergang. Er zögert zunächst, die Waffe mitzunehmen, und als er sich schließlich doch dazu durchringt, weiß er nicht, wo er sie hinstecken soll. Das Ding ist schwer. Mohamed hat eine Umhängetasche aus hellem Stoff. Außerdem kann er schießen – er hat es von einem Onkel gelernt, der in der Schlacht von Amgalla Offizier gewesen ist. Mohamed nimmt die Waffe an sich. Die beiden jungen Männer treten auf die Straße und atmen die verheißungsvolle Sommerluft ein.
    Die Rue Petit liegt ganz ruhig da. Sie biegen in die Rue Eugène-Jumin ab. Ahmed fühlt sich ganz leicht. Geschützt durch die Waffe in der Tasche von Mohamed-der-schießen-kann. Das Schild des Frisiersalons ist weithin sichtbar. Sam, der Gauner, macht Ahmed jetzt keine Angst mehr. Plötzlich jedoch fällt ihm etwas auf: Die Tür des Gebetssaals steht halb offen. Innen ist es völlig finster und sehr still. Ahmed gibt seinem Cousin ein Zeichen, zu schweigen und wachsam zu sein. Mohamed lässt die Hand in die Tasche gleiten, umfasst den Griff der Glock, legt seinen Finger auf den Abzug und nickt Ahmed zu. Dieser stößt die Tür mit dem Ellbogen auf und beugt sich vor. Es ist stockdunkel. Ahmed schaltet sein Handy ein, um etwas sehen zu können. Die Gebetsteppiche liegen zusammengerollt an der Seite. Die Schuhregale sind bis auf ein Paar Reeboks leer. Ein offener Koran mit zerknitterten Seiten beunruhigt ihn. Das Licht des Handys erlischt. Ahmed
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