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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Autoren: Karim Miské
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tot ist. Dank seiner Lektüre weiß er, worauf er in einem Fall wie diesem achten muss: Er darf sich nicht verdächtig machen, darf keine Fingerabdrücke hinterlassen und so weiter. Denn eines ist ihm sofort klar: Der Schwarze Peter wird ihm zugeschoben werden. Er weiß es einfach, es gab zahlreiche kleine Hinweise. Wie das Lächeln von Sam, dem Frisör, das sich in ein Brennen im Nacken verwandelt, kaum dass Ahmed ihm den Rücken kehrt. Oder der komplizenhafte Blick zweier angeblich verfeindeter Männer, den er zufällig bemerkt hat. Es geht um irritierende Kleinigkeiten. Ahmed begreift, dass sie rückblickend mit Lauras Tod zu tun haben – aber wie? Er hat nicht die geringste Lust, der Hauptverdächtige zu sein, aber er wird auch nicht die Flucht ergreifen. Er muss unbedingt mehr herausfinden. Er will wissen, was da läuft und warum man ihn mit hineinziehen will. Laura blutet noch, das heißt, der Mord ist noch nicht lange her. Sicher ist, dass der Mörder den Verdacht auf Lauras Nachbarn lenken will, aber er wird vermutlich eine Weile warten, bevor er die Polizei oder die Presse benachrichtigt.
    Ahmed besitzt einen Schlüssel zur Zwei-Zimmer-Wohnung der jungen Frau. Er steigt die Treppe hinauf. Er muss jetzt selber nachschauen, muss die Situation in sich aufnehmen. Die Tür ist nur angelehnt und knarrt leise im Durchzug.
    Er drückt sie mit der Schulter auf, vermeidet aber jeglichen Kontakt mit der Haut. Durch das weit geöffnete Balkonfenster, das sich in einer Flucht mit dem Flur befindet, strömt ein unangenehmer Geruch in die Wohnung. Über den jetzt grauen Himmel ziehen schwarze Wolken heran. In der Ferne ertönt ein Grollen. Ahmed muss sich beeilen. In der Mitte des Wohnzimmers ist der Tisch sorgfältig für zwei Personen gedeckt. Neben einer entkorkten Bordeauxflasche stehen zwei zu zwei Dritteln gefüllte Gläser. Auf einer weißen Porzellanplatte liegt ein Schweinebraten in einer roten Soße. Mitten im Fleisch steckt ein Messer mit schwarzem Griff.
    Wirklichkeit und Scheinwelt vermischen sich, wie bei einem Possenspiel. Der junge Mann schwankt und will sich irgendwo festhalten. Er streckt schon die Hand nach einer Stuhllehne aus, als eine innere Stimme warnend raunt: »Bloß keine Abdrücke hinterlassen!« Schnell weicht er einen Schritt zurück, wendet den Kopf ab und steht plötzlich seinem Konterfei gegenüber. Es ist lange her, dass Ahmed sich zuletzt in einem Spiegel betrachtet hat. Überrascht registriert er seine eingefallenen Wangen, die eher erd- als bronzefarbene Haut und seinen Zehn-Tage-Bart. Die wenigen Frauen, mit denen er sich ab und an vergnügt hat, haben ihm oft gesagt, dass er schön ist. Nie hat er diesen Worten aus einem früheren Leben Bedeutung beigemessen, jetzt jedoch erhalten sie plötzlich einen Sinn. Sein leicht gewelltes Haar, seine vollen Lippen und sein sanfter Blick bilden ein harmonisches Ganzes. Ahmed ist tief bewegt. Er erinnert sich an Lauras sehnsüchtige Blicke, aber auch an die Verschlossenheit seines eigenen Herzens. Er wendet sich von seinem Spiegelbild ab und tritt auf den Balkon. Er muss sich dem Entsetzen stellen, das ihn dort erwartet.
    Laura steht aufrecht, sie ist mit weißem Kabelbinder an der Außenseite des Geländers festgebunden. Vorsichtig nähert Ahmed sich den großen, blauen Augen, die leer in den Abgrund starren. Ihm kommt es so vor, als hätte er sie nie richtig angesehen, als gestatte ihm erst der Tod, ihr freundliches florentinisches Madonnengesicht richtig zur Kenntnis zu nehmen. Er erinnert sich an Lauras diskrete Versuche, ihm ihre Gefühle zu zeigen. Seine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen. Erst angesichts dieser unwiderruflichen Endgültigkeit versteht er, was sie ihm hatte sagen wollen. Und was noch schlimmer ist: Er begreift, dass auch er etwas für sie empfand und dass Laura seine Zuneigung zu ihr erkannte, trotz seiner eigenen Blindheit. Sie war schön. Sie hätten sich lieben können. Ahmeds Herz scheint gleichzeitig zu zerspringen und zu erwachen. Seine Hand will zu ihrer Wange, hält aber Millimeter davor inne. Er reißt sich zusammen, die Vernunft siegt. In Ahmed reift ein Gedanke: Laura, ich werde dich rächen. Das ist vielleicht klischeehaft, aber er meint es ernst. Er wagt sich noch einen Schritt vor. Die junge Frau trägt nichts als ein rotes T-Shirt. In ihrem Mund steckt ein Knebel. Der Oberkörper scheint unverletzt zu sein, der Unterleib jedoch ist eine riesige, klaffende Wunde. Inzwischen tropft kein Blut mehr auf Ahmeds
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