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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Autoren: Karim Miské
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einem Kinderbuch. Seine bemerkenswerte Intelligenz zeigt sich sogar in seinen Augen und in seinen präzisen und erstaunlich geschmeidigen Bewegungen. Die runden Wangen, die vollen Lippen und die Rettungsringe über seinem Gürtel verraten, dass er kein Kostverächter ist. Trotzdem wirkt er nicht fett, zwischen Speck und Muskeln herrscht vielmehr ein ausgewogenes Gleichgewicht: Er ist füllig genug, um seine Gegner in Sicherheit zu wiegen, und hat doch ausreichend Muskelmasse, um sich im richtigen Moment auf die Beute zu stürzen – was hoffentlich niemals nötig sein wird. Auf seine Art sieht Mercator gut aus. Ein bisschen wie Marlon Brando in der Rolle des Colonel Kurtz. Nicht jeder erkennt diese Schönheit. Rachel schon, vom ersten Augenblick an. Seine Arbeitsweise spiegelt in ihren Augen das Zusammenspiel zwischen seiner Intelligenz, seiner verborgenen Schönheit und seiner Einstellung: Er ist aus Überzeugung Polizist.
    Auch Hamelot ist übrigens ein guter Polizist. Sogar ein sehr guter. Und er hat recht: Die Methode des Chefs ist immer dieselbe. Mit drei Zentimetern über dem Papier schwebendem Füllfederhalter begutachtet Mercator das leere Blatt. Sehr intensiv. Er schließt die Augen, atmet ein und hebt den Stift. Nach drei Sekunden lässt er mit einer Art Fauchen den Stift auf das Papier niedersausen und zeichnet einen Kreis. Immer mit geschlossenen Augen. Er atmet aus, legt den Füller beiseite, greift nach dem Blatt, öffnet die Augen und betrachtet sein Werk. Aber nur für einen kurzen Augenblick. Dann legt er es vorsichtig auf den Stapel zu seiner Rechten. Es ist vollbracht.
    Rachel und Jean hatten also vor der Bürotür verharrt. Nachdem Mercator seinen Kreis fertiggestellt hatte, hatte er sie hereingewunken und um einen detaillierten Bericht inklusive der Raumaufteilung der Wohnung, deren Ausstattung und der genauen Position des Schweinebratens gebeten. Den hatten sie ihm gegeben: Die Räume der Toten sind unpersönlich und modern eingerichtet, ohne Fernseher, im Bücherregal stehen Balzac, Maupassant und Flaubert, ein Fotoporträt von Miles Davis mit geschlossenen Augen, Kussmund und um das Gesicht gelegten Händen hängt gegenüber einer Reproduktion von Picassos Demoiselles d’Avignon . Im Flurschrank gleich neben der Eingangstür hängt die Flugbegleiteruniform von Air France. Rachel und Jean, noch sehr beeindruckt vom Grauen des Tatorts, hatten ihren Chef auch an ihrem Schrecken teilhaben lassen. Der Commissaire hatte in seinem schwarzen Ledersessel gesessen und mit abwesender Miene aufmerksam zugehört, wie immer. Sein Blick war im Verlauf des Berichts immer düsterer und ernster geworden, als beobachte er einen Schatten, der nach und nach das Büro füllte. Einen Schatten, der ihm schon zuvor begegnet ist und dessen Umrisse nur er allein kennt. Als Rachel und Jean von den enthaupteten Orchideen berichtet hatten, deren Blüten zum Dreieck angeordnet auf der Toilettenbrille gelegen hatten, hatte Mercator sich völlig verschlossen. Er hatte sich mit wenigen, unpersönlichen Sätzen verabschiedet, in denen die Worte »Bericht«, »sieben Uhr morgen früh«, »Ermittlung« und immer wieder »ihr beide« vorkamen, ihnen tief in die Augen geblickt und das Büro verlassen.
    Damit hatte ihre nächtliche Sitzung im Bunker begonnen. Hamelot und Kupferstein waren zunächst auf ein Bier ins Erdgeschoss gegangen, zu den Kollegen, die Feierabend hatten, und anschließend in ihr Büro zurückgekehrt, wo sie ein paar Zeilen geschrieben und schließlich Sushi und japanisches Asahi-Bier bestellt hatten. Die Erinnerungen waren immer mehr verblasst. Um drei Uhr morgens hatte Jean sich noch einmal am Computer versucht. Rachel hatte ein wenig abseitsgesessen und Pissing in a River auf ihrem rosafarbenen iPod nano gehört.
    LEER WERDEN.
    ANFANGEN.
    In der Stille der Nacht haben sich die beiden Lieutenants an entgegengesetzten Enden des Innenhofs auf kleinen, reflektierenden Liegestühlen ausgestreckt. Ein grüner für Jean, ein roter für Rachel. Sie haben schon so manches erlebt, Junkies, die sich einen goldenen Schuss setzen, oder Verbrechen aus Leidenschaft, außerdem natürlich der ganz alltägliche Wahnsinn, aber mit dem Mord an Laura begegnen sie zum ersten Mal dem wahren Grauen. Damit müssen sie jetzt fertigwerden. Dabei geht es darum, den Grund ihrer Seele auszuloten, sich mit dem Geschehen zu beschäftigen, ohne Schaden zu nehmen. Sie müssen über die banale Faszination des Bösen hinauswachsen. Und genau
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