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Entflammt

Entflammt

Titel: Entflammt
Autoren: Cate Tiernan
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Antwort gelten ließ, war Incy sofort da und fletschte die Zähne. Wenn eine andere Frau eine boshafte Bemerkung machte, vernichtete Incy sie mit seiner Schlagfertigkeit vor versammelter Mannschaft. Er half mir, meine Klamotten auszusuchen, brachte mir von überall her die tollsten Sachen mit, kritisierte mich nie und ließ mich nie schlecht dastehen.
    Und ich tat für ihn dasselbe - einmal hatte ich einer Frau eine Flasche auf dem Kopf zerschlagen, weil sie mit einer langen Nagelfeile auf ihn losgegangen war. Ich hatte Türsteher bestochen, Bobbys und Gendarmen angelogen, und der jeweiligen Situation entsprechend seine Frau, seine Schwester oder seine Geliebte gespielt. Danach hatten wir uns immer halb totgelacht, waren einander in die Arme gefallen und hatten gelacht, bis uns die Tränen kamen. Die Tatsache, dass wir nie ein Liebespaar gewesen waren und deshalb nicht diese Verlegenheit zwischen uns herrschte, machte das Ganze noch perfekter.
    Er war mein bester Freund - der beste Freund, den ich je hatte. Wir waren schon über ein Jahrhundert zusammen, Was es noch erstaunlicher machte, dass es ihm in der vergangenen Nacht gelungen war, mich so zu schocken. Und ebenso erstaunlich fand ich, dass unsere Freunde nicht geschockt gewesen waren. Und auch erstaunlich, dass ich an einem neuen Tiefpunkt angekommen war, selbst für mich. Dem Tiefpunkt der Gleichgültigkeit. Dem Tiefpunkt der Feigheit. Und zu allem Überfluss hatte Incy auch noch meinen Nacken gesehen. Konnte es noch schlimmer kommen?
    Als ich endlich wieder in meiner Londoner Wohnung war, duschte ich erst mal. Ich saß auf dem Marmorboden und ließ das heiße Wasser lange Zeit auf meinen Kopf rauschen, um den Alkohol und das Lagerhaus von meiner Haut abzuwaschen. Ich konnte nicht einmal in Worte fassen, was ich fühlte. Angst? Scham? Es war, als wäre ich heute in einem anderen Leben aufgewacht als gestern, als wäre ich jetzt ein anderer Mensch. Und dieses Leben und ich waren plötzlich viel dunkler und abstoßender und gefährlicher, als ich bisher gedacht hatte.
    Ich seifte mich überall ein und spürte förmlich, wie mir der Alkohol aus den Poren kam. Als ich mir die Haare wusch, vermied ich automatisch mein ... Nein, es war kein Tattoo. Natürlich haben auch Unsterbliche Tätowierungen und sie halten auch lange, vielleicht neunzig Jahre oder so. Andere Narben heilen, verblassen und verschwinden viel schneller als bei normalen Menschen. Schon nach ein paar Jahren sieht man nicht mehr, wo mal eine Verletzung oder Verbrennung war.
    Außer bei mir. Das Mal in meinem Nacken stammte von einer Verbrennung und ich habe es seit meinem zehnten Lebensjahr. Es hat sich nie verändert, ist nie verblichen. Die Haut sieht dort ein wenig eingedrückt und wie gemustert aus. Das Mal selbst ist rund und fast sechs Zentimeter im Durchmesser. Es ist durch ein rot glühendes Amulett entstanden, das vor vierhundertneunundvierzig Jahren auf meine Haut gepresst wurde. Klar, trotz meiner Paranoia hat es in den letzten viereinhalb Jahrhunderten gelegentlich mal jemand    gesehen. Aber soweit ich weiß, war darunter niemand, der heute noch lebt. Abgesehen von Incy, letzte Nacht.
    Irgendwann kam ich aus der Dusche, ganz runzlig. Ich zog den flauschigen Bademantel an, den ich aus irgendeinem Ho-tel mitgenommen hatte, und vermied es, mich im Spiegel zu betrachten. Wie ein Geist wanderte ich ins Wohnzimmer und holte die London Times von der Fußmatte, wo ich sie beim
    Heimkommen hingekickt hatte. Ich trug sie in meine kleine Wohnküche, aber im Kühlschrank waren nur eine uralte Packung Ritz Cracker und eine Flasche Wodka. Also setzte ich mich auf die Couch, aß die pappigen Cracker und überflog die Times. Es stand ganz hinten, vor den Todesanzeigen, aber noch hinter einem Bericht über Pfadfinderinnen: Trevor Hollis, 48, selbstständiger Taxifahrer, wurde in der vergangenen Nacht von einem Fahrgast angegriffen und erlitt einen Wirbelbruch. Er wurde zur Untersuchung auf die Intensivstation des St. James' Hospital gebracht. Die Ärzte gehen davon aus, dass er von den Schultern abwärts gelähmt bleiben wird. Bisher war er nicht in der Lage, seinen Angreifer zu beschreiben. Seine Frau und seine Kinder sind an seiner Seite.
    Von den Schultern abwärts gelähmt. Ob es einen Unterschied gemacht hätte, wenn ich ihm schneller Hilfe besorgt, einen Krankenwagen gerufen hätte? Wie lange hatte er dort gelegen, starr vor
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