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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt
Autoren: Cate Tiernan
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Nastasja, befahl ich mir streng. Das sollte eigentlich gesessen haben. Sehr, sehr langsam ging ich aufs Haus zu, damit ich noch etwas Zeit zum Nachdenken hatte.
      Schließlich stieg ich die Stufen hoch und öffnete die Küchentür, wo mich Backdüfte begrüßten. Reyn hing dort ebenfalls ab.
      Rachel nickte mir zu, die an der Arbeitsplatte einen Teigklumpen von der Größe einer Melone knetete. Sie trug ein dunkelgrünes Sweatshirt und hatte ihre schwarzen Haare mit einem Tuch zusammengebunden. Ich wusste, dass sie ursprünglich aus Mexiko stammte und ungefähr dreihundertfünfzehn war, also rund ein Jahrhundert jünger als ich. Sie sah aus wie eine Studentin.
      »Hey«, sagte ich, um Normalität bemüht. »Das riecht lecker.« Sie nickte wieder. Rachel lächelte nur selten, aber ein Blick auf den umwerfenden Kerl mit dem hässlichen kleinen Welpen unter dem Mantel ließ ihre Gesichtszüge weich werden. Ich meine, kann man sich ein Bild vorstellen, das noch mehr zum Niederknien ist? Missgelaunt ging ich an ihm vorbei ins Esszimmer. Genau im selben Moment kam Charles durch die Schwingtür. Sein Gesicht leuchtete auf, als er Reyn entdeckte. Sofort fing er an, Dufa unter dem Kinn zu kraulen, was sie offensichtlich genoss.
      »Gut, dass ich dich treffe, Reyn«, sagte Charles. »Kannst du mir helfen, den großen Schrank im ersten Stock umzustellen?« »Klar.« Reyn bedachte mich mit einem Blick, der mich schaudern ließ, und folgte Charles hinaus.
      Ich hörte auf, ihm hinterherzustarren, und musste feststellen, dass Rachel mich beobachtete.
      »Aha«, sagte sie und schob sich die Brille hoch, was einer weißen Mehlschmierer auf ihrer Nase hinterließ.
      »A-ha was?«, erwiderte ich kühl.
      Sie nickte nur und ich verdrehte die Augen und verzog mich in das große schlichte Zimmer, in dem wir aßen. Zurzeit waren wir dreizehn Personen: die vier Lehrer River, Asher (der Rivers Partner war), Solis und Anne - und acht Schüler: ich, Brynne, Rachel, Daisuke, Charles, Lorenz und der unnahbare Reyn. Und dann war da noch Annes Schwester Amy, die aber nur zu Besuch da war.
      Ich hängte meine Jacke auf und schaute tatsächlich auf den Arbeitsplan im Flur. Allein die Tatsache, dass ich es tat und mich nicht klammheimlich für ein kleines Nickerchen in mein Zimmer verdrückte, bewies wohl zur Genüge, mit welcher Hingabe ich das Leben und mich selbst ernst nahm. Natürlich war diese Hingabe an manchen Tagen stärker als an anderen und es gab auch Tage, an denen ich mich ungefähr fünfzig Mal dazu zwingen musste.
      Verdammter Reyn. Für wen hielt der sich?
      Plötzlich standen mir meine Nackenhaare zu Berge. Auf der Holzveranda dröhnten Schritte, und vor der Mattglasscheibe der Haustür tauchte ein dunkler Schatten auf. Die Paranoia, die ich seit Boston verspürte, war sofort wieder da, als der Türknauf gedreht wurde.
      Die Tür ging auf. Und wenn man die perfekte Besetzung für die Rolle des Teufels in einem alten Hollywoodschinken suchen würde, wäre es dieser Typ. Er war groß, dunkel und gut aussehend, aber auf eine raue, vermutlich seelentötende Weise. Flügelförmige Brauen überspannten Augen, die so dunkel waren wie meine - nein, schwärzer, tiefer, ohne jedes Licht. Haifischaugen. Er starrte mich sofort an, stellte seinen Koffer ab und legte den Kopf in den Nacken. Ich beobachtete ihn verstört und erwartete Wolfsgeheul.
      »River!«, brüllte er und es hallte durch den ganzen Flur. Ich wich zurück bis zur Treppe und wollte noch ein wenig weiter zurückkriechen, um mich ins hintere Wohnzimmer zu verdrücken. Fast sofort wurde die Tür am Ende des Flurs geöffnet und River kam aus dem kleinen Raum, den sie als Büro benutzte. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu. Hätte sie irgendeine andere Regung als freudige Überraschung gezeigt, würde ich mir den Ziegelstein schnappen, der die Wohnzimmertür offen hielt, und ihn dem Typen über den Schädel schlagen.
      River war tatsächlich freudig überrascht, allerdings auch etwas verblüfft.
      »Ottavio!«, rief River aus und da erinnerte ich mich vage an ihn, denn River hatte mich einmal auf eine Führung durch ihr Leben mitgenommen.
      Dieser finster wirkende Typ war Rivers älterer Bruder. Außerdem hatte sie auch noch drei jüngere Brüder.
      Ist ja der Hammer, dachte ich, als ich es endlich kapiert hatte. Das ist Rivers Bruder. Er war noch älter als River, und sie war einer der ältesten Menschen, die ich je getroffen hatte. Sie ist 718 in
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