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Engelsnacht

Engelsnacht

Titel: Engelsnacht
Autoren: Lauren Kate
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hatte, so schnell zerstört wurde. Aber natürlich würden die Leute hier wissen wollen, was mit ihr los war.
    Sie spürte das Blut an ihren Schläfen pochen. Das geschah immer, wenn sie sich an jene Nacht zu erinnern - wirklich zu erinnern - versuchte. Sie fühlte sich schuldig an dem, was Trevor widerfahren war; dieses Gefühl begleitete sie ständig. Aber sie wehrte sich mit aller Kraft dagegen, von den Schatten verschlungen zu werden, die das Einzige waren, woran sie sich noch erinnern konnte. Sie waren auch vor dem Zwischenfall da gewesen. Jene düsteren, unnennbaren Gestalten, von denen sie niemals irgendjemandem würde erzählen können. Niemals.
    Nein, falsch - sie war kurz davor gewesen, Trevor von der seltsamen Aura zu erzählen, die sie um sich herum spürte, von den ineinander verschlungenen Schemen, die dunkel über ihren Köpfen dräuten. Die ihren wunderschönen gemeinsamen Abend zu vernichten drohten. Aber da war es bereits zu spät gewesen. Und jetzt war Trevor tot, sein Körper bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und sie, Luce … war sie … war sie schuldig?
    Niemand wusste von den verschwommenen Gestalten, die sie manchmal in der Dunkelheit sah. Sie waren schon immer zu ihr gekommen. Sie kamen und gingen - so lange schon, dass Luce sich nicht mehr erinnern konnte, wann sie das erste Mal aufgetaucht waren. Aber sie konnte sich noch genau daran erinnern, wann sie das erste Mal begriffen hatte, dass die Schatten nicht zu allen Menschen kamen - oder genauer, dass sie nur zu ihr kamen. Als sie sieben Jahre alt war, hatten ihre Eltern mit ihr Ferien auf Hilton Head Island gemacht und sie waren alle zusammen in einem Boot aufs Meer hinausgefahren. Kurz vor Sonnenuntergang waren dann die Schatten über das Wasser gewandert, und sie hatte sich zu ihrem Vater umgedreht und gesagt: »Was machen wir, wenn sie zu uns kommen, Dad? Habt ihr keine Angst vor den Monstern?«

    Ihre Eltern hatten ihr erklärt, es gebe keine Monster und es seien hier auch keine zu sehen. Aber Luce hatte auf der Anwesenheit von einem dunklen, wabernden Etwas beharrt, was zu mehreren Terminen beim Augenarzt und zu einer Brille führte. Und danach, als sie den Fehler begangen hatte, das heisere Flüstern und Zischeln zu beschreiben, das die Schatten manchmal von sich gaben, zu mehreren Terminen beim Ohrenarzt. Und schließlich zu Therapiestunden und immer noch mehr Therapiestunden, und als alles nicht helfen wollte, zur Verschreibung von Antipsychotika.
    Nichts davon führte jemals dazu, dass die Schatten verschwanden.
    Als sie vierzehn war, weigerte Luce sich, noch länger ihre Medikamente zu nehmen. Damals hatten ihre Eltern Dr. Sanford aufgetrieben, dessen Klinik ganz in der Nähe der Dover Highschool lag. Sie flogen alle zusammen nach New Hampshire und fuhren danach eine lange kurvenreiche Straße einen Berg hoch, bis sie zu einer großen Villa kamen, die Shady Hollows hieß. Sie stellten Luce einen Mann in einem weißen Kittel vor und fragten sie, ob sie immer noch ihre »Erscheinungen« habe. Die Hände ihrer Eltern waren feucht und kalt, als sie sich von Luce verabschiedeten. Auf ihren Gesichtern war die Angst zu lesen, dass mit ihrer Tochter womöglich etwas ganz und gar nicht stimmte.
    Niemand hatte Luce groß erklären müssen, was für sie auf dem Spiel stand. Dass sie in ihrem Leben noch viele Shady Hollows von innen sehen würde, wenn sie Dr. Sanford nicht erzählte, was man von ihr hören wollte. Als sie anfing zu lügen und sich wie alle anderen verhielt, erlaubte man ihr, auf die Dover Highschool zu gehen, und sie musste nur noch zwei Mal im Monat zu Dr. Sanford.
    Die schrecklichen Medikamente musste Luce nicht mehr
nehmen, seit sie behauptet hatte, keine Schatten mehr zu sehen. Was aber nicht hieß, dass sie kontrollieren konnte, wann sie auftauchten. Alles, was sie wusste, war, dass es eine Reihe von Orten gab, an denen sie bereits von ihnen bedrängt worden war - tief im Wald, in der Nähe von trüben Gewässern -, und dass sie solche Orte nun mied. Alles, was sie wusste, war, dass sich unter ihrer Haut ein kaltes Frösteln ausbreitete, wenn die Schatten kamen, und sie von einem entsetzlichen, unerträglichen Gefühl gepackt wurde, das mit keiner anderen Empfindung vergleichbar war.
    Luce rutschte auf der Bank ein Stück von Arriane weg und massierte sich die Schläfen. Wenn sie diesen ersten Tag hier überstehen wollte, musste sie die Vergangenheit in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses verbannen. Sie ertrug es
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