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Engelsnacht

Engelsnacht

Titel: Engelsnacht
Autoren: Lauren Kate
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kaum, die Erinnerung an diese Nacht in sich wachzurufen, wenn sie allein war, und erst recht nicht konnte sie da einer rätselhaften, überdrehten Fremden alle schaurigen Einzelheiten des Vorfalls anvertrauen.
    Sie gab keine Antwort und blickte Arriane nur stumm an, die sich inzwischen auf dem Rücken ausgestreckt und eine riesige schwarze Sonnenbrille hervorgezogen hatte, die den größten Teil ihres Gesichts verdeckte. Schwer zu sagen, aber sie musste Luce gleichfalls aufmerksam beobachtet haben, denn eine Sekunde später sprang sie auf und lächelte Luce an.
    »Ich will auch so einen Haarschnitt wie du«, sagte sie. »Mach ihn mir.«
    »Was?« Luce war entsetzt. »Aber du hast doch so schöne Haare.«
    Was stimmte. Arriane hatte die prächtigen langen Haare, denen Luce so nachtrauerte. Lange, gelockte Haare. Schwarz mit einem leichten rötlichen Schimmer. Luce machte eine
Geste, wie um eine Strähne hinters Ohr zurückzustreichen, auch wenn das bei ihren kurzen Haaren vergeblich war.
    »Schööön lang und langweilig«, sagte Arriane. »Wie du sie hast, das ist sexy-hexy. Das will ich auch.«
    »Ähm, na ja, wenn du meinst«, sagte Luce. War das als Kompliment gemeint? Sie wusste nicht, ob sie sich geschmeichelt fühlte oder eher genervt war, dass Arriane offensichtlich glaubte, sie könnte alles haben, was sie wollte, auch wenn es jemand anders gehörte. »Aber wie sollen wir denn -«
    »Tata!« Arriane griff in ihre Tasche und zog das Schweizer Armeemesser hervor, das Gabbe kurz vorher abgeliefert hatte. »Super, was? Ich nutze immer die Gelegenheit und wühle mit meinen Schmutzfingern ein bisschen in dem Karton herum, wenn neue Schüler angekommen sind. Darauf habe ich mich schon wochenlang gefreut. Der bloße Gedanke daran rettete mich durch die Hundstage meines Gefängnisaufenthalts in der Sword & Cross … ähm, ich meine natürlich mein Sommercamp.«
    »Du … du hast den ganzen Sommer hier verbracht?« Luce glaubte ihren Ohren nicht zu trauen.
    »Ha! Das kann nur ein absoluter Neuling fragen. Wahrscheinlich freust du dich schon auf Weihnachten und die Frühjahrsferien.« Sie reichte Luce das Schweizer Armeemesser. »Vergiss es. Du kommst aus diesem Loch nie mehr raus. Nie mehr. Und jetzt schneid mir die Haare.«
    »Was ist mit den Überwachungskameras?«, fragte Luce. Sie blickte sich mit dem Messer in der Hand um. Irgendwo waren bestimmt auch hier Kameras versteckt.
    Arriane schüttelte den Kopf. »Mit Angsthasen will ich nichts zu tun haben. Kannst du mit so einem Messer umgehen oder nicht?«
    Luce nickte.

    »Und erzähl mir jetzt nicht, dass du noch nie jemandem die Haare geschnitten hast.« Arriane schnappte sich das Messer noch einmal, klappte die kleine Schere aus und reichte Luce das Messer zurück. »Ich will kein Wort mehr hören. Erst wenn du mir sagen kannst, dass ich mit meiner neuen Frisur supertoll aussehe.«
    Als Luce damals in der Badewanne saß, die einen Frisiersalon ersetzen musste, hatte ihre Mutter die spärlichen Überreste ihrer langen Haare zu einem Zopf zusammengedreht, den sie dann mit einer großen Schere abschnitt. Luce war sich sicher, dass es noch andere, sorgfältigere Methoden des Haareschneidens geben musste, aber da sie sich ihr ganzes Leben lang geweigert hatte, zum Friseur zu gehen, war der abgeschnittene Pferdeschwanz alles, was sie kannte. Sie fasste Arrianes Haare zu einem Zopf zusammen, zog von ihrem Handgelenk ein Gummi, das sie um die Haare wickelte, und machte sich mit der kleinen Schere des Schweizer Armeemessers ans Werk.
    Schließlich war es geschafft, der Pferdeschwanz fiel zu Boden. Arriane seufzte, fuhr herum, bückte sich, hob ihn auf und hielt ihn triumphierend hoch. Der Anblick tat Luce im Herzen weh. Sie trauerte immer noch ihren eigenen langen Haaren nach - die ihr zum Symbol für so vieles geworden waren, das sie verloren hatte. Aber Arriane lächelte. Sie fuhr mit den Fingern noch einmal durch die abgeschnittenen Haare, dann ließ sie den Pferdeschwanz in ihrer Tasche verschwinden.
    »Großartig«, sagte sie. »Mach weiter.«
    »Arriane«, flüsterte Luce erschrocken, »was ist mit deinem Hals?« Die Frage war ihr herausgerutscht, bevor sie lange nachdenken konnte.
    »Du meinst die große Narbe?«, fragte Arriane zurück.

    Ein breiter Streifen Haut an ihrem Hals - vom linken Ohr bis hinunter zum Schlüsselbein - war unregelmäßig verwachsen und schimmerte weiß. Luce musste an Trevor denken, an die schrecklichen Fotos von ihm. Sogar ihre eigenen
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