Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engelsmorgen

Engelsmorgen

Titel: Engelsmorgen
Autoren: Lauren Kate
Vom Netzwerk:
der einzige ausdruckslose Teil in seinem Gesicht. Der Rest – Kinn, Mund, Augenbrauen, sogar die Wangen – wirkte gefährlich wild. Seine weiße Haut war straff über die Schädelknochen gespannt. Seine Hände glichen Klauen. Wut und Verzweiflung hatten ihn von einem blassen und seltsamen, aber gut aussehenden Jungen in ein Monster verwandelt. Er hob seinen Bogen und zielte damit auf Luce.
    »Wochenlang habe ich geduldig auf meine Chance gewartet. Aber jetzt muss ich wohl etwas mehr Gewalt anwenden als meine Schwester«, sagte er mit kalter Stimme. »Du kommst mit uns.«
    Rechts und links von Luce wurden ebenfalls Silberbogen in Position gebracht. Cam zog noch einmal seinen aus seinem Mantel heraus, und Daniel bückte sich, um den Bogen aufzuklauben, den das Outcast-Mädchen soeben hatte fallen lassen. Phil schien genau damit gerechnet zu haben. Sein Gesicht verzog sich zu einem finsteren Grinsen.
    Er zielte auf ihn. »Muss ich erst deinen geliebten Daniel töten, damit du mit uns kommst?«, fragt er. »Oder willst du noch ein paar andere Opfer?« Er machte mit seinem Pfeil einen blitzschnellen Schwenk.
    Luce starrte auf den Silberpfeil mit der merkwürdigen flachen Spitze, der direkt auf Daniels Brust gerichtet war. Phil würde sein Ziel nicht verfehlen. Sie hatte gesehen, wie diese Pfeile unzählige Outcasts, aber ja trotzdem immer noch Engel, in graue Staubwölkchen verwandelt hatten. Aber sie hatte auch gesehen, wie ein solcher Pfeil von Callie abgeprallt war, als wäre er tatsächlich nichts anderes als der Silberstab, der er allem Augenschein nach war.
    Da begriff sie auf einmal, dass die Silberpfeile zwar Engel töteten, aber nicht Menschen.
    Sie stellte sich vor Daniel. »Ich werde nicht zulassen, dass ihr ihn verletzt. Eure Pfeile können mir nichts antun.«
    Ein eigentümlicher Laut entschlüpfte Daniel, halb ein Lachen, halb ein Schluchzen. Sie drehte sich erschrocken zu ihm. In seinen Augen konnte sie Furcht lesen, aber auch ein Schuldgefühl.
    Luce kam plötzlich das Gespräch in den Sinn, dass sie unter dem knorrigen Pfirsichbaum in Sword & Cross geführt hatten, als er ihr das erste Mal von ihren Reinkarnationen erzählte. Und sie erinnerte sich auch an den Augenblick in Mendocino, als er das erste Mal von seiner Stellung im Himmel gesprochen hatte. Was für ein Kampf es gewesen war, ihm etwas über die lange vergangenen Zeiten zu entlocken, bevor alles seinen Anfang genommen hatte. Sie hatte das Gefühl, längst noch nicht alles erfahren zu haben.
    Das ächzende Geräusch des Bogens ließ sie wieder in die Gegenwart zurückkehren, zurück zu dem Outcast, der den Pfeil gelockert hatte. Er richtete ihn nun auf Miles. »Genug geredet«, sagte er. »Ich werde deine Freunde einen nach dem andern abknallen, bis du dich ergibst.«
    In ihrem Geist sah Luce ein helles Licht vor sich aufblitzen, einen Farbwirbel, gefolgt von einer schnell vorbeiziehenden Montage von Bildern aus ihren bisherigen Leben – ihre Mom und ihr Dad mit Andrew, dem Pudel. Die greisen Eltern, die sie in Mount Shasta durchs Fenster beobachtet hatte. Vera beim Schlittschuhlaufen auf dem gefrorenen See. Das Mädchen in dem gelben Bikini, das unter dem Wasserfall geschwommen war. Andere Städte, Menschen, Zeiten, die sie noch nicht zuordnen konnte. Daniels Gesicht. Immer wieder Daniels Gesicht. Aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln, in immer wieder anderer Beleuchtung. Und dann das Feuer, Flammen, die hochloderten, immer wieder.
    Dann fuhr sie sich über die Augen und war wieder im Garten ihrer Eltern. Die übrig gebliebenen Outcasts näherten sich, drängten sich aneinander und redeten flüsternd auf Phil ein. Er wehrte sie mit einer Armbewegung ab, wirkte erzürnt, versuchte, sich nicht ablenken zu lassen. Er fixierte Luce. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt.
    Luce merkte, wie Miles sie anschaute. Er musste tausend Ängste ausstehen. Aber nein, er wirkte nicht verängstigt. Er schaute sie mit einem so intensiven Blick an, dass sie spürte, wie sie davon bis ins Innerste erschüttert wurde. Luce fühlte sich auf einmal ganz benommen und ihr verschwamm alles vor den Augen. Danach hatte sie die unheimliche Empfindung, als würde etwas von ihr abgezogen. Eine Hülle, in der sie gesteckt hatte.
    Und sie hörte ihre Stimme sagen: »Nicht schießen. Ich ergebe mich.«
    Aber die Laute hallten fremd und körperlos im dunklen Garten wider. Es war nicht sie, Luce, gewesen, die das gesagt hatte. Sie wandte die Augen dorthin, wo die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher