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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut
Autoren: Michael Kibler
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Jungs in Frankfurt angefunkt, hab gesagt, wo ich stehe, kurz hinter dem Bahnübergang Hektometer 10.3. Ich hab irgendwie funktioniert wie im Lehrbuch. ›Sehr verehrte Passagiere, wegen eines technischen Defekts können wir im Moment nicht weiterfahren. Bitte verlassen Sie den Zug nicht. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit. Ich bitte um Ihr Verständnis.‹ Ich glaube, ich vergesse eher den Text von ›Alle meine Entchen‹ als den hier. Dann bin ich aus dem Zug. Mit Taschenlampe und Notfallkoffer. Hab den Rumpf gesehen. Ohne den Rest dran.«
    Zumbill schwieg. Es gab auch nicht mehr viel zu sagen.
    »Werd ich wohl nie vergessen, was? Was meinen Sie, Frau Hesgart?«
    Sie war sicher nicht die geeignete Person, um auf diese Frage kompetent zu antworten.
    Wieder brach Zumbill in Tränen aus.
    »Danke, Herr Zumbill, ich denke, das war’s fürs Erste.« Die Zeit, da sie noch gedacht hatte, sie müsse sich um das Leid jedes Opfers persönlich kümmern, die war lange vorbei. Ihr Job war es, die bösen Jungs zu fangen. Wenn es hier überhaupt welche zu fangen gab. Sie wandte sich an einen der Schutzpolizisten. »Wo ist die Leiche?«
    Der Beamte drehte sich um und deutete auf den Wagen des Bestattungsunternehmens.
    Ein junger Mann saß im Fahrzeug. Die Seitentür stand auf, einen Fuß hatte der Mann auf den Schotter des Waldwegs gestellt. Er rauchte eine Zigarette. Rund um den Dreitagebart war er ziemlich blass.
    »Hesgart, Kripo Darmstadt. Sie sind?«
    Der Mann stieg aus dem Auto, ein schlaksiger Hüne, der Margot um gut einen Kopf überragte. In der einen Hand hielt er die Zigarette. Die andere reichte er Margot.
    »Michael Stein. Mann, Mann, Mann, so was habe ich auch noch nicht gesehen. Ich meine, ist ja mein Job, mit Toten und so – aber das hier …«
    »Kann ich die Leiche sehen?«
    »Die Leiche – Sie sind gut. Ich kann Ihnen das zeigen, was wir gefunden haben.« Er ging um den Wagen herum.
    Im Heck des Leichenwagens war eine Plastikwanne mit Deckel.
    »Könnten Sie die Innenbeleuchtung einschalten?« Zwar erhellte das Flutlicht die Szenerie draußen, legte damit aber einen Schatten über das Innere des Wagens. Jetzt kam der beschissenste Teil des Jobs.
    Michael Stein zog den Deckel zur Seite, und Margot konnte ins Innere sehen. Sie schaltete um auf Profi-Modus. Obwohl sie sicher war, dass sie diese Bilder noch eine Weile verfolgen würden, egal, in welchem Modus.
    Die Tote hatte eine rote Jacke getragen. Margot fühlte in die Innentaschen. Nichts. Alles leer. Kein Portemonnaie. Kein Personalausweis.
    Dann fasste sie in die rechte Seitentasche. Dort klimperte etwas. Sie zog einen Schlüsselbund heraus. Zwei Schlüssel, die aussahen wie ein Haustür-und ein Wohnungstürschlüssel. Dann zwei kleinere Schlüssel. Für die Kellertür und den Briefkasten? Am Ring hing noch etwas. Ein Schlüsselanhänger in Form eines Engels mit Smiley-Gesicht, zu zwei Zöpfen gebundenen Haaren und einer Kette mit Herzchenanhänger.
    Sie wussten also nicht einmal, wer die Tote war. Sie war nur eine tote Frau, deren Schutzengel sie im Stich gelassen hatte.
    Und Muttl hatte recht. Die Identifizierung würde nicht leicht sein. Das Gesicht würde jedenfalls nicht dazu beitragen. Aber vielleicht ein Teil des Zahnbildes.
    »Okay, Sie können den Deckel wieder schließen. Danke. Fahren Sie die Leiche bitte zur Rechtsmedizin nach Frankfurt.«
    »Machen wir. Wenn wir hier fertig sind.«
    Margot verabschiedete sich von Michael Stein, der sich bereits die nächste Zigarette angezündet hatte.

MONTAG
    Margot Hesgart hatte höchstens drei Stunden geschlafen. Dabei war es nicht nur der Selbstmord an der Strecke der Odenwaldbahn gewesen, der sie so aufgewühlt hatte. Die Rückkehr in das leere Haus hatte auch dazu beigetragen.
    Es hatte zwei Stunden gedauert, bis sie endlich eingeschlafen war. Und dann sicher eine halbe Stunde, bis sie die Töne des Radioweckers dieser Welt hatte zuordnen können.
    Duschen, schminken, anziehen – es war schnell gegangen, wie es immer schnell ging. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat. Um acht Uhr hatte sie mit einem Kaffee hinter ihrem Schreibtisch gesessen. Viele Fälle, viele ältere Fälle.
    Hinrich, der Gerichtsmediziner, hatte sich noch nicht zu der Zugleiche geäußert. Natürlich nicht. Er würde jetzt erst an den Alutisch mit den sterblichen Überresten der Toten treten.
    Sie klickte die Ordner des Servers an. Es gab bereits welche, in denen die Kollegen Bilder der Nacht abgelegt hatten. Auf den vom
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