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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes
Autoren: Michael Marshall
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flussabwärts lief, konnte er flüchten, ohne dass ich eine Chance hätte, ihm zu folgen. Mit anderen Worten, die Zeit wurde knapp.
    Er würde Nina umbringen und fliehen.
    Ihr Blick ruhte immer noch auf mir. Ich spürte, dass sie mir die Entscheidung überließ. Ich musste tun, was ich für das Beste hielt, und entsprechend reagieren.
    Ich trat einen Schritt zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war, und ließ die Arme für einen Augenblick sinken. Meine Hände wurden klamm. Auch mein Kopf war kalt und leer bis auf den Gedanken an die eine Entscheidung.
    Mir stand immer nur Ninas Gesicht vor Augen.
    Da, am Rand meines Gesichtsfeldes, bewegte sich etwas. Am anderen Ende der Schlucht, nicht direkt an der Kante, sondern etwas weiter davon entfernt.
    Ich trat wieder vor.
    »Du kannst mich mal, Paul«, sagte ich. »Ich werde dir den Gefallen nicht tun.«
    »Wie du willst«, erwiderte er. Er schaute mich jetzt direkt an und drückte die Pistole noch fester an Ninas Schläfe. »Dann tue ich es eben für dich.«
    Die Gestalt am anderen Ende kam näher heran und befand sich jetzt fast am oberen Rand der Felswand. Ich schaute unverwandt auf Paul und ließ mir nichts anmerken.
    »Ward, schieß jetzt. Sonst tue ich es.«
    »John – tu es nicht.«
    Ich wartete eine Sekunde und sprang dann rasch zur Seite. »Jetzt!«, rief ich.
    Paul fuhr herum und trat einen Schritt zurück, um Nina zwischen ihn und mich zu bringen.
    Connelly schoss aus seiner Position. Er hatte gut gezielt und traf Paul oben in die Schulter.
    Von der Wucht des Schusses herumgerisssen, ließ Paul die Pistole sinken, und eine Sekunde lang stand er ohne Deckung da, nur Luft zwischen mir und ihm. Ich schoss dreimal. Schulter, Arm, Bein.
    Er drehte sich schwerfällig und versuchte Nina festzuhalten, doch sie boxte und trat gegen ihn und löste sich aus seinem Griff. Sie lief los, kam aber nur ein paar Schritte weit, dann stürzte sie.
    Unterdessen kletterte ich den Abhang hinunter und kam nochmals zum Schuss. Diesmal traf ich ihn mitten in den Körper. Er wurde gegen den Fels geschleudert und verlor dabei seine Waffe.
    Ich stellte mich rasch in die Linie zwischen ihm und John. Ob es John tatsächlich abgehalten hätte, wusste ich nicht, jedenfalls schoss er nicht.
    Dann watete ich durch das kalte, fließende Wasser auf die andere Seite des Flusses. Zwei Meter vor ihm blieb ich stehen.
    Hob den Arm. Richtete die Pistole auf ihn.
    Paul lag hingestreckt am Fuß der Felswand. Arme und Beine waren verdreht, und er blutete stark. Er war kaum wiederzuerkennen.
    Er schaute zu mir auf.
    Er sah mir so schrecklich ähnlich.

Cannon Beach
    V ier Tage später folgten wir einem Tipp von Patrice. Wir fuhren hinunter nach Portland und dann auf der Route 6 nach Westen. Während des ganzen Weges durch den Staat Washington hatte es geregnet, und es regnete immer noch, als wir durch den Tillamook State Forest Richtung Küste fuhren. Dieser Wald ist sehr schön, aber das war nicht immer so. Lange Zeit über wurde dort Raubbau betrieben, und im Jahr 1933 schlug ein großer Brand eine Schneise der Verwüstung mitten hindurch. Am Ende waren hundertzwanzigtausend Hektar urwüchsigen Waldes ein Raub der Flammen geworden. Es hieß, dass der Ascheregen noch auf Schiffen fünfhundert Meilen von der Küste entfernt niederging. Doch der Brand konnte gelöscht werden. Danach machte man sich an das Aufforsten. Eine Laune des Schicksals wollte es, dass der Wald auch 1939 , 1945 und 1951 brannte, als wäre er Opfer einer alle sechs Jahre wiederkehrenden Plage. Doch die Menschen ließen sich nicht entmutigen und pflanzten noch viel mehr Bäume: Gartenvereine, Pfadfinder und ehrenamtliche Helfer opferten ihre Wochenenden für diesen guten Zweck. Heutzutage sieht der Tillamook State Forest wie ein ganz normaler Wald aus. Wer nicht weiß, was vor einigen Jahrzehnten dort geschehen ist, muss glauben, dass er immer so ausgesehen hat. So sind wir Menschen. Manchmal.
    Weder Nina noch mir kam es in den Sinn, am Straßenrand Halt zu machen und spazieren zu gehen. Auch ohne den Regen. Wir hatten erst einmal genug Bäume gesehen.
     
    Nina wollte nicht, dass ich ihn erschieße.
    Ich war drauf und dran, es zu tun, wirklich. Mir schien es das einzig Sinnvolle. Er hatte schließlich meine Eltern getötet und mein Leben ruiniert. Er hatte auch die Tochter des Mannes getötet, der am anderen Ufer lag und mich, wie ich im Rücken spürte, mit Blicken durchbohrte. Er hatte Menschen getötet, deren Namen ich
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