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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten
Autoren: Anne Rice
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strahlender wirken.
    Asrael nahm einen großen Schluck von dem Wasser.
    »Ist dir das Feuer auch angenehm?«, fragte ich ihn.
    Er nickte. »Aber noch besser ist es, es zu betrachten.«
    Dann sah er mich an. »Vielleicht vergesse ich mich während meiner Erzählung. Möglicherweise verfalle ich in Aramäisch oder Hebräisch. Vielleicht auch Persisch oder Griechisch oder Latein. Dann sorge dafür, dass ich schnell wieder zu deiner Sprache zurückkehre, zum Englischen.«
    »Ja, das werde ich«, gab ich zurück. »Aber ich habe meine mangelnden Sprachkenntnisse noch nie so bedauert wie jetzt.
    Hebräisch könnte ich verstehen, auch Latein, aber bestimmt nicht Persisch.«
    »Da gibt es nichts zu bedauern«, sagte er. »Vielleicht hast du die Zeit genutzt, um die Sterne oder den Schneefall zu betrachten, oder hast dich im Liebesspiel verloren.
    Ich sollte die Sprache sprechen, die ein Geist zu sprechen hat.
    Ein Dschinn spricht die Sprache seines Meisters oder die der Menschen, unter denen er sich auf Geheiß seines Meisters zu bewegen hat - also ist es deine Sprache; denn ich bin nun mein eigener Meister, und ich habe also diese Sprache für uns gewählt. Das sollte genügen.«
    Wir waren bereit. Wenn dieses Haus je wärmer oder anhei-melnder gewesen war, wenn ich je die Gesellschaft einer Person mehr genossen hatte, so konnte ich mich im Moment nicht daran erinnern. Ich wollte nur eins, mit ihm zusammen sein und mit ihm reden, und in meinem Herzen fühlte ich schon jetzt ein kleines, schmerzhaftes Stechen, das mir sagte, wenn er seine Geschichte beendet haben würde, wenn diese Nähe zwischen uns wie auch immer zu einem Ende gekommen war, würde nichts mehr für mich so sein, wie es vorher einmal gewesen war.
    Und wirklich, für mich sollte danach nichts mehr so sein, wie es war. Er begann mit seiner Erzählung.

    2

    »Ich hatte keinerlei Erinnerung an Jerusalem«, erzählte Asrael. »Ich war nicht dort geboren worden. Meine Mutter war noch ein Kind, als sie und ihre Familie mit dem gesamten Stamm von den Truppen Nebukadnezars verschleppt wurden.
    Ich wurde in Babylon geboren, in eine wohlhabende hebräische Familie, eine Familie mit zahllosen Tanten und Onkeln und Vettern und Cousinen, und alle waren sie reiche Kaufleute oder Schriftgelehrte, hin und wieder war ein Prophet, ganz selten auch ein Sänger oder Tänzer oder Page bei Hofe darunter.
    Natürlich«, sagte er amüsiert lächelnd, »weinte ich tagtäglich um Jerusalem. Ich sang das Lied ›Wenn ich deiner je vergesse, o Jerusalem, möge meine rechte Hand verdorren.‹ Und in alle Morgen- und Abendgebete schlossen wir die Bitte an den Herrn ein, uns in unser Land zurückzuführen.
    Aber im Grunde genommen muss ich sagen, dass Babylon mein ganzes Leben ausmachte. Als ich zwanzig war und mir die erste große - soll ich sagen: Tragödie? - meines Lebens widerfuhr, waren mir die Gesänge und die Götter Babylons ebenso vertraut wie das Hebräische und wie die Psalmen Davids, die ich Tag für Tag kopierte, oder das Buch Samuel oder die anderen Texte, über denen die meisten meiner Familie brüteten.
    Wir führten ein herrschaftliches Leben. Doch ehe ich auf mich - auf meine Lebensumstände sozusagen - weiter eingehe, will ich dir von Babylon erzählen. Ich will singen das Lied Babylons in einem fremden Lande. Da ich kein Wohlgefallen vor den Augen des Herrn finde - sonst wäre ich jetzt nicht hier -, kann ich wohl meine Lieder nach eigenem Gefallen wählen, was meinst du?«
    »Ich will alles erfahren«, sagte ich ernst. »In welcher Form, das kannst du selbst bestimmen. Lass die Worte einfach aus dir hervorströmen. Du musst sie nicht sorgfältig abwägen, oder? Sprichst du hier zu Gott, unserem Herrn, oder sprichst du nur über dein Leben?«
    »Gute Frage. Ich will die Geschichte in meinen eigenen Worten erzählen, und du sollst sie so festhalten, darum bin ich hier. Ja! Ich werde also wüten und heulen und Gott schmähen, wenn mir danach ist. Ich werde reden wie ein Wasserfall. So rede ich übrigens ständig. Meine Familie hatte schon damals große Mühe, meinen Redefluss zu stoppen.«
    Jetzt sah ich ihn zum ersten Mal wirklich unbeschwert und herzlich lachen, ein Lachen, das er so mühelos zustande brachte wie Atmen, ein zwangloses, ganz und gar nicht selbstgefälliges Lachen.
    Er musterte mich eindringlich. »Es überrascht dich, dass ich lache, Jonathan? Ich glaube, Lachen gehört zu den wesentli-chen Charakterzügen von Geistern, von geistigen Projektio-nen,
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