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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten
Autoren: Anne Rice
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auch von so machtvollen, wie ich eine bin. Hast du die Darstellungen der alten Gelehrten durchforscht? Geister sind berühmt für ihr Gelächter. Heilige lachen und Engel auch. Ich denke, Lachen ist ein Bestandteil der himmlischen Klänge.
    Glaube ich. Ich weiß es nicht genau.«
    »Vielleicht fühlt man sich dem Himmel nahe, wenn man lacht«, schlug ich vor.
    »Vielleicht«, stimmte er zu. Sem breiter, engelhafter Mund war wirklich schön. Durch einen kleineren Mund hätte sein Gesicht leicht babyhaft gewirkt. Doch mit diesem großzügig geschnittenen Mund, den dichten schwarzen Brauen und den großen lebhaften Augen war er ziemlich bemerkenswert.

    Auch er betrachtete mich aufs Neue eingehend, als habe er die Fähigkeit, in meinen Gedanken zu lesen.
    »Mein gelehrter Freund«, sagte er, »ich habe alle von dir ver-fassten Bücher gelesen. Deine Studenten lieben dich, nicht wahr? Aber die alten Chassidim sind von deiner Auslegung der biblischen Schriften ziemlich geschockt, oder?«
    »Sie ignorieren mich. Für die bin ich inexistent«, antwortete ich. »Aber Tatsache ist - meine Mutter gehörte zu den Chassidim, und deshalb habe ich vielleicht ein klein wenig Einsicht in diese Dinge, was ganz hilfreich sein könnte.«
    Ich war mir inzwischen darüber klar, dass ich ihn mochte, was immer er auch getan hatte; ich mochte ihn um seiner selbst willen - diesen jungen Mann von, wie er selbst gesagt hatte, zwanzig Jahren. Und obwohl ich immer noch durch das Fieber und auch durch sein Erscheinen und seine Tricks ziemlich außer Gefecht gesetzt war, gewöhnte ich mich doch allmählich an seine Gegenwart.
    Er verharrte einige Minuten, offensichtlich in Grübeln versunken, dann begann er:
    »Babylon«, sagte er. »Babylon! Nenne mir nur den Namen einer Stadt, deren Klang, deren Berühmtheit sich mit Babylon messen kann. Das kann nicht einmal Rom, sage ich dir. Und Rom gab es zu jener Zeit noch nicht. Babylon war der Mittel-punkt der Welt. Es wurde von den Göttern erbaut, als ihr Tor zur Welt. Schon unter Hammurabi war es eine großartige Stadt. In Babylons Häfen legten nicht nur ägyptische Schiffe an, sondern die aller Seevölker, selbst aus Dilmun kamen sie.
    Ich war ein vom Glück gesegnetes Kind Babylons.
    Ich habe mich eigens auf den Weg gemacht, um mir anzusehen, was heute noch davon steht, im Irak. Ich habe die von Saddam Hussein, diesem Tyrannen, wieder aufgebauten Mauern betrachtet. Ich habe die von Sand bedeckten Hügel gesehen, die die Wüste sprenkeln, unter ihnen liegen die antiken Städte und Ortschaften, einst assyrisch, babylonisch, judäisch.
    Ich bin in Berlin im Museum gewesen, und mir kamen die Trä-
    nen, als ich sah, wie euer Archäologe Koldewey das mächtige Tor Ischtars und die Straße der Prozessionen nachempfunden hat.
    Oh, mein Freund, wie es war, auf dieser Straße zu gehen!
    Was es bedeutete, den Blick über diese schimmernden Mauern aus blau glasierten Ziegeln gleiten zu lassen, was es hieß, an den goldenen Drachen Marduks vorbeizuschreiten!
    Aber selbst wenn du diese alte Prozessionsstraße in ihrer ganzen Länge und Breite unter deinen Füßen gespürt hättest, es wäre nur eine kleine Kostprobe dessen gewesen, was Babylon wirklich war. Alle Straßen der Stadt waren eben, viele mit Kalkstein und rotem Sandstein gepflastert. Wir lebten an einem Ort, der aus Halbedelsteinen zusammengesetzt schien.
    Stell dir eine Stadt vor, die über und über in den schönsten Farben glasiert und emailliert ist, stell dir all die Gärten dort vor. Der Gott Marduk habe die Stadt mit eigenen Händen erbaut, so sagte man, und wir glaubten es. Früh schon über-nahm ich die babylonischen Bräuche, und du weißt ja, jedermann dort hatte einen Gott für sich, sozusagen einen persönlichen Gott. Man betete zu ihm und bat ihn um dieses oder jenes. Das tat ich den Babyloniern nach, und ich wählte ausgerechnet Marduk als meinen persönlichen Gott.
    Du kannst dir wohl die Aufregung vorstellen, als ich eines Tages mit einer kleinen goldenen Statuette Marduks in der Hand nach Hause kam und sogar zu ihr sprach, genau wie ein echter Babylonier. Doch im Endeffekt lachte mein Vater nur. Das war so typisch für meinen schönen, naiven Vater. Er warf den Kopf in den Nacken und intonierte mit seiner wundervollen Stimme: ›Jahwe ist unser Gott, der Gott deiner Väter, der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs.‹ Das brachte sofort einen meiner Onkel auf den Plan: ›Und was ist das da für ein Götzenbild in seiner Hand?‹
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