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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten
Autoren: Anne Rice
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noch, als sie schon »live« gestorben war.
    Hin und wieder dachte ich in den folgenden Tagen an sie. Auf ihren Tod folgten weitere Grausamkeiten, die alle mit ihrem Vater und seiner durch die elektronischen Medien agierenden Sekte zu tun hatten. Noch mehr Blutvergießen.
    Ich hatte ihren Vater nicht persönlich gekannt. Seine Anhänger sammelten sich an den Straßenecken wie Schutt an einer Baustelle.
    Doch an Esther konnte ich mich recht gut erinnern. Sie wollte immer alles wissen, gehörte zu den bescheidenen, stillen, immer aufmerksamen Mädchen, und sie war so lieblich, ja, wirklich. Ich erinnerte mich an sie. Ganz bestimmt. Welche Ironie; dieses zarte Mädchen ermordet, und anschließend die Tragö-
    die, die aus der Verblendung ihres Vaters resultierte.
    Ich bemühte mich gar nicht erst, die ganze Sache zu verstehen.
    Ich vergaß Esther einfach. Vergaß sie und dass man sie getö-
    tet hatte. Vergaß ihren Vater. Ich schätze, ich vergaß, dass sie je gelebt hatte.
    Es gab immer wieder neue und andere Nachrichten. Ich fand, dass es für mich an der Zeit war, das Lehramt eine Weile ruhen zu lassen. Ich zog mich zurück, um mein Buch zu schreiben. Ich ging in die Berge, bis hinauf in den Schnee. Ich hatte dem Angedenken Esther Belkins nicht einmal ein Gebet gewidmet, aber ich bin Historiker und nicht Prediger. Erst oben im Gebirge erfuhr ich die ganze Geschichte. Esthers Tod verfolgte mich, wurde lebendig und gewann an Bedeutung durch die Worte eines anderen.

    Teil I

    Gebein des Wehs

    Golden ist des Wehs Gebein.
    Ins Nirgends richtet sich sein Schein.
    Er stürzt tief inwärts, sticht durch Stein.

    Nur in Träumen, nicht bewusst,
    schlürfen wir der Mutter Brust,
    das Weh der Väter, Grabesluft.
    Golden Gebein umkränzt die Kluft.

    Seide, Kupfer, Silber, Gold.
    Weh ist Wasser, milchvergällt.
    Herzattacke, Krebs und Mord,
    doch dies Gebein tanzt fort und fort.

    Golden ist des Wehs Gebein.
    Skelette stehen Arm in Arm.
    Der Geister Wort dringt nicht ins Sein.
    Nicht zu lauschen lernen wir.

    Stan Rice, Some Lamb 1975

    1

    Dies ist Asraels Geschichte; so hat er sie mir erzählt und mich gebeten, seine Worte aufzuzeichnen und zu bezeugen. Sie können mich Jonathan nennen, so wie er. Diesen Namen wählte er in jener Nacht, als er in meiner weit geöffneten Tür erschien und mein Leben rettete. Ich wäre mit Sicherheit noch vor Anbruch des Morgens gestorben, wenn er nicht auf der Suche nach einem »Schriftgelehrten« hierher gekommen wäre.
    Ich sollte erwähnen, dass ich für meine Arbeit auf den Gebieten Geschichte, Archäologie und Sumerische Forschung bekannt bin. Und Jonathan gehört tatsächlich zu den Namen, die man mir bei meiner Geburt gab. Er steht allerdings nicht auf den Einbänden meiner Bücher, mit denen sich meine Studenten befassen, teils gezwungenermaßen, teils weil sie die geheimnisvolle Seite an den Sagen der Antike ebenso lieben wie ich.
    Asrael war das bekannt - dass ich Gelehrter und Dozent war -, als er zu mir kam.
    Wir einigten uns darauf, dass ich für ihn Jonathan war. Den Namen hatte er sich aus dem Copyright meiner Bücher ge-pickt, in dem alle drei Vornamen aufgeführt werden. Und ich war darauf eingegangen. Bei diesem Namen nannte er mich während der langen Stunden, in denen er mir seine Geschichte erzählte - eine Geschichte, die ich nie und nimmer unter meinem richtigen, mit akademischen Weihen gesegneten Namen veröffentlichen würde, da ich, wie auch er, sehr wohl wusste, dass man diese Sache niemals neben meinen ge-schichtlichen Werken gelten lassen würde.
    So bin ich also Jonathan, der Schriftgelehrte. Ich erzähle den Hergang mit Asraels Worten. Es ist für ihn nicht wichtig, welchen Namen ich Ihnen gegenüber benutze. Wirklich wichtig war ihm nur, dass jemand festhielt, was er zu sagen hatte.
    Das Buch Asrael wurde Jonathan diktiert.
    Asrael wusste genau, wer ich war. Er kannte alle meine Arbeiten, und bevor er sich hierher auf den Weg machte, hatte er sie eingehend studiert. Er kannte meinen Ruf in akademischen Kreisen, und etwas an meinem Stil und an meiner Betrachtung der Dinge hatte sein Interesse geweckt.
    Vielleicht fand er es gut, dass ich bereits das achtbare Alter von fünfundsechzig Jahren erreicht hatte und immer noch Tag und Nacht schrieb und arbeitete wie ein junger Mann, ohne auch nur zu erwägen, aus dem Institut, an dem ich lehrte, auszuscheiden, wenn ich auch dann und wann einen gewissen Abstand davon brauchte.
    Es war also keine willkürliche Wahl, die
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