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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten
Autoren: Anne Rice
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er sich abermals, sein Kopf vergrößerte sich ein wenig, die Gesichtszüge wurden ausgeprägter, die Stirn trat stärker und deutlicher hervor, und der weiche, engelhafte Mund ersetzte die dünne Lip-penlinie Belkins. Seine glühenden Augen blickten wieder riesig groß unter den dichten, beweglichen Augenbrauen hervor, was sein Lächeln geheimnisvoll und verführerisch erscheinen ließ.
    Doch das hier war kein fröhliches Lächeln, kein Humor, nichts Liebliches lag darin.
    »Als ich mich dazu entschloss, glaubte ich, ich würde nun auf ewig so aussehen«, sagte er und hielt mir abermals das Titelbild des Magazins entgegen. »Ich dachte, ich müsste bis zu meinem Tod in dieser Gestalt bleiben.« Er seufzte. »Der
    ›Tempel vom Geiste Gottes‹ liegt in Trümmern. Kein Volk wird vernichtet, weder Frauen noch Kinder werden an Giftgas zugrunde gehen. Doch auch ich lebe noch. Ich bin wieder Asrael.«
    Ich griff nach seiner Hand. »Du bist ein atmender, lebendiger Mann. Ich weiß nicht, wie du es bewerkstelligst, Gregory Belkins Aussehen anzunehmen.«
    »Nein, kein Mann - ein Geist«, gab er zurück. »Und zwar ein so machtvoller Geist, dass er sich den Körper erschaffen kann, den er einst als lebendiger Mensch hatte - aber nun kann er ihn nicht wieder loswerden. Warum tat Gott mir das an? Ich bin nicht ohne Schuld, ich habe gesündigt. Aber warum kann ich nicht sterben?«
    Plötzlich hellte ein Lächeln seine Züge auf. Er war fast noch ein Junge, die Lockenpracht bildete einen dunklen Rahmen für seine schmalen Wangen und den schön geformten, großen Engelsmund.
    »Vielleicht wollte Gott nur aus einem Grund, dass ich lebe, nämlich um dich zu retten, Jonathan. Er gab mir meinen ursprünglichen Körper zurück, damit ich diese Berge erklimme und dir all dies erzähle. Du wärst gestorben, wenn ich nicht gekommen wäre.«
    »Vielleicht, Asrael«, sagte ich.
    »Du schläfst jetzt besser«, sagte er. »Deine Stirn ist kühl. Ich werde warten und auf dich aufpassen; und wenn du siehst, dass ich mich von Zeit zu Zeit wieder in diesen anderen Mann verwandle, bedeutet das nur, dass ich herauszufinden versuche, wie schwer mir die Verwandlung mit jedem neuen Versuch wird. Meine Gestalt zu ändern - auf Geheiß des Magiers, der mich aus den Gebeinen heraufbeschwören konnte -, hatte mich bisher nie sonderlich viel Mühe gekostet, genausowenig, wie Illusionen zu erzeugen, um die Feinde meines jeweiligen Meisters zu irritieren, oder die, die er berauben oder betrügen wollte. Doch nun fällt es mir schwer, als etwas anderes zu erscheinen als der junge Mann, der ich einst war, als alles begann; als ich ihre Lügen schluckte; als ich zu diesem Geist wurde - und nicht etwa zu einem Märtyrer, wie sie es mir versprochen hatten. Liege jetzt still, Jonathan, schlafe. Deine Augen sind klar, und deine Wangen haben wieder Farbe.«
    »Gib mir nur noch einen Schluck von der Brühe«, bat ich. Das tat er.
    »Asrael, ohne dich wäre ich jetzt wirklich tot.«
    »Ja, wenigstens das ist wahr, oder? Aber ich sage dir, ich hatte diesmal tatsächlich schon den Fuß auf den Stufen zum Himmel, ich stand schon darauf, als ich jene Entscheidung traf, und ich glaubte, wenn alles vorüber, wenn die Sekte zerstört wäre, würden die Stufen wieder erscheinen - für mich.
    Die Chassidim sind rein und schuldlos, sie sind gut. Doch ihre Kämpfe müssen sie Ungeheuern wie mir überlassen.«
    »Guter Gott«, sagte ich. Gregory Belkin. Ein wahnwitziger Plan. Ich konnte mich bruchstückhaft erinnern ... »Und dann war da dieses schöne Mädchen«, murmelte ich. Er setzte die Tasse mit der Brühe nieder und wischte mir Gesicht und Hän-de ab. »Sie hieß Esther.«
    »Ja.«
    Er schlug die wellige, feuchte Zeitschrift für mich auf. Sie begann in dem warmen Raum zu trocknen, und das Papier wölb-te sich beulig auf. Ich erkannte die berühmte Fotografie, Esther Belkin, kurz bevor sie starb. Mitten auf der Fifth Avenue lag sie auf einer Trage, die gerade in das Ambulanzfahrzeug geschoben werden sollte. Dieses Mal jedoch wurde mein Blick von einer Gestalt auf dem Foto angezogen, die ich zwar schon vorher wahrgenommen hatte, ja, in einer Fernsehübertragung und auch auf dem stärker vergrößerten Titelfoto der gleichen Szene; doch hatte ich der Gestalt bisher keine Beachtung geschenkt. Jetzt erst sah ich den jungen Mann wirklich, der neben der Trage stand und, wie in tiefstem Kummer um Esther, die Hände an die Schläfen gepresst hielt. Ein junger Mann, auf dem Foto
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