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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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wie! So wild. So verzweifelt. Mir wurde ganz unheimlich. Das Herz hat sich mir im Leib umgedreht. Ich schaue mich um, und sie kommen auf mich zu, die ganze Meute. Ich zum Zug. Der Lokführer springt raus, hilft mir mit dem Kinderwagen rein und sagt immer wieder: ›Na, Gott sei Dank, Gott sei Dank …‹
    Und ist sofort losgefahren, damit ich es mir nicht anders überlege.
    Dann haben wir eine Weile bei ihm in Workuta gelebt. Er hat mir erzählt, warum er gesessen hat. Das ist auch so eine Geschichte. Er kommt aus der Gegend von Wologda. Der oberste Natschalnik in ihrem Landkreis hat ihren Ort fast erfrieren lassen. Der Heizkessel war nämlich kaputt, und der Chef hat sich das Geld für die Reparatur in die eigene Tasche gesteckt. Und damit spekuliert. Bei irgendwelchenBanken. Und wollte es nicht wieder rausrücken. Als die Fröste kamen, sind die Leute zu ihm, und er immer: ›Ja, ja, ja, alles unter Kontrolle, ja, ja, ja, wird alles gemacht!‹
    Und die Tochter von diesem Lokführer, Nikolai heißt er, also seine Tochter, die holte sich im Kindergarten eine Lungenentzündung. Und starb. Da ist er hin zu diesem Natschalnik. Er macht die Tür auf, und der Kerl hebt nicht mal den Kopf, legt gleich los: Ja, ja, ja … Weiter kam er nicht. Nikolai hat ihn mit einer Schrotflinte erschossen. Und dann auf die Miliz gewartet …
    ›Als ich dich gesehen hab, wie du mit dem Säugling in den sicheren Tod gehst‹, hat er gesagt, ›da konnte ich nicht mehr schlafen. Ich hab sogar daran gedacht, dich mit Gewalt zu entführen. Oder dir die Kinder wegzunehmen. Ich hab ja nichts mehr zu verlieren. Aber die Kinder taten mir leid. Wofür sollen die Kinder leiden?‹«
    Antonina Fjodorowna verstummte. »Und dann?« fragte Nikita nach einer Weile. Da sah er, daß sie schlief. Noch immer lächelnd. Und mit geradem Rücken.
    Ein Güterzug schlich vorbei. Die Tankwagen mit ihren runden Flanken glichen riesigen Tieren, Nashörnern oder Nilpferden, hartnäckig unterwegs auf der Suche nach dem Glück.
    Am Morgen kaufte Nikita Antonina Fjodorowna die Schafwollsocken ab, die er in der Nacht getragen hatte.
    »Siehst du, Sewa, ich hab doch gesagt, morgen haben wir Glück, und du hast mir nicht geglaubt!« tadelte sie ihren älteren Sohn und kaufte Brot und gezuckerte Kondensmilch in einem verkohlten Kiosk, den betrunkene Männer vor einer Woche ausgeräuchert hatten, weil der Verkäufer den Schnaps nicht umsonst rausrücken wollte.
    Ljonka begrüßte einen Strauch in der Nähe mitHandschlag. Sewa wandte sich ab und kaute düster. Antonina Fjodorowna redete auf den Mann im Kiosk ein, ihr »erstklassige Wollsocken« abzukaufen.

    »Und dann bin auch ich langsam durchgedreht.« Die Fortsetzung der Geschichte bekam Nikita erst gegen Abend zu hören, als die unermüdliche Antonina Kisseljowa ganz Kirshatsch abgeklappert und sämtliche Wollsocken verkauft hatte und auf den Abendzug wartete. »Ich hatte das Gefühl, daß mein Mann nach mir ruft, mir Vorwürfe macht, weil ich ihn verlassen habe. Die Stimme war ganz deutlich in meinem Kopf, ich fing an, mit ihm zu reden.
    ›Kolja‹, hab ich gesagt (er heißt auch Nikolai), ich hatte doch nicht um mich Angst, sondern um die Kinder, Kolja!‹
    Ich wollte zu Fuß los, ihn dort wegholen. Oder ihm wenigstens was zu essen bringen. Nikolai, also der Lokführer, schloß mich in der Wohnung ein.
    ›Dummes Weib‹, schrie er, ›der Mann ist verloren, aber du, du hast Kinder!‹
    Und ich nur:
    ›Ich lauf so oder so weg!‹
    Nach ein paar Tagen hatte ich ihn soweit. Ich war selber überrascht. Hinter dem Rücken seines Chefs holte er in der Nacht eine Lok aus dem Schuppen, setzte mich in die Kabine, und wir fuhren nach Chalmer-Ju, meinen Nikolai suchen. Ich bekam Schiß, meinte: ›Vielleicht lassen wir das lieber? Vielleicht geh ich lieber zu Fuß? Das ist doch strafbar!‹ Aber er winkte nur ab.«

    »Und – haben Sie ihn gefunden?« Nikita saß auf dem Bahnsteig, an das Bahnhofsgebäude gelehnt, und kämpfte mit aller Kraft gegen eine Ohnmacht an.
    »Ich weiß nicht. Da war natürlich niemand. Die Türen standen sperrangelweit offen. Die Wohnung war aufgeräumt. Sogar den Topf hat er abgewaschen, den verkohlten … Wir haben den ganzen Ort abgesucht, jedes Haus. Die Leute haben ja alles offengelassen, als sie weg sind. In der Grube waren wir auch. Aber wir haben niemanden gefunden. Das heißt, ich hab niemanden gefunden, und Nikolai hat nichts gefunden. Er hat nämlich nach einer Leiche gesucht, ich nach
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