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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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meinem lebenden Mann. Selbst die Hunde waren verschwunden. Überall eine Stille, man traute sich nicht mal zu flüstern, so unheimlich war das.
    Wir sind unverrichteter Dinge wieder weggefahren. Doch als wir dort rumliefen, kam es mir die ganze Zeit so vor, als ob er mich ansieht. Von hinten. Aber wenn ich mich umdrehte, war da keiner. Dieser Blick – den spüre ich heute noch. Er sieht mich immer an …«
    »Wieso hat Ihr Lokführer Sie denn mit den Kindern gehen und Socken verkaufen lassen?«
    »Ich hab ihm vorgeschwindelt, daß ich zu meiner Schwester an den Kuban will, daß ich dort Arbeit kriege und ein eigenes Haus … Ich wollte einfach weg von ihm. Eine Schwester hab ich nie gehabt.«
    »Aber warum?«
    »Meine Eltern haben es nicht mehr geschafft, sie sind früh gestorben. Vater ist in der Grube verunglückt, und Mama ist ihm ein Jahr später gefolgt.«
    »Ich rede nicht von der Schwester. Ich rede von dem Lokführer.«
    »Ach, der Lokführer … Also, er fing an, von Liebe zu sprechen. Aber ich – mir war nicht nach Liebe, mein Herz ist dort geblieben, in dem leeren Ort. Na ja, der Mann tat mir leid. Ein herzensguter Mensch. Beim Abschied hat erplötzlich von seiner Frau erzählt. Die hieß übrigens auch Tonja. Komisch, nicht: zwei Nikolais und zwei Antoninas …«
    »Und was war mit der Frau?«
    »Solange der Prozeß lief, hat sie sich tapfer gehalten und ihm Mut gemacht. Aber als er verurteilt wurde, hat sie Hand an sich gelegt. Sich aufgehängt. Er erfuhr es erst nach einem Jahr. Sie hatte vor ihrem Tod ein Dutzend Briefe an ihn geschrieben. Zärtliche Briefe, von wegen, alles in Ordnung, ich warte auf dich, die Heizung ist wieder repariert … Die Nachbarin hat jeden Monat einen Brief abgeschickt, bis keiner mehr übrig war. Na, da kommt ja unser Zug …«

3
    Junker trank wieder einmal teuren italienischen Wein. Trockenen. Roten. Junker hörte wieder einmal Schubert. Fehlten nur noch Kerzen und ein weißes Seidenhemd mit Stehkragen. Junker sprach, wie es sich für einen russischen Aristokraten gehört, vom Schicksal des Vaterlandes. Nikita tat das Knie weh. Ihm war traurig zumute.
    »Was fährst du bloß dauernd herum? Was suchst du? Das Rußland, das wir verloren haben?« fragte Junker, während er Wein einschenkte.
    »Rußland …«, echote Nikita.
    »Um dann in der Emigration zu hocken, wo deine Frau Katenka im Salon russische Romanzen singt, und einen Roman zu schreiben mit dem Titel ›Verrückte Tage‹?«
    »Ich werde nicht emigrieren, das weißt du doch.«
    »Solltest du aber. Das Erdöl hier reicht noch für acht Jahre. Dann ist Schluß. Und neue Vorkommen werden seit dem Ende der Sowjetzeit nicht mehr erschlossen. Was tun?«
    »Leben.«
    »Eher überleben. Aber ich will nicht überleben. Ich für meinen Teil liebe guten Wein und gute Musik, ich lese gerade die Memoiren von Swjatoslaw Richter …«
    Junker war ein Sybarit und Ästhet. Während Nikita von sich sagte: »Ich bin auf der Straße aufgewachsen.« Und diese Freundschaft wäre nie zustande gekommen, hätte sich Junker nicht überraschend als guter Mensch entpuppt. Obwohl – gut ist nicht ganz das richtige Wort. Nikita zerbrach sich lange den Kopf, bis er in seinem Gedächtnis dieses archaische Bücherwort gefunden hatte. Junker war nobel .
    Er lebte in einer Welt, die vor hundert Jahren untergegangen war. In einer Welt, in der es noch so etwas gab wie »Ehre«, »Gewissen« und »Würde«. Lange Zeit hielt Nikita Junker überhaupt für eine vollkommen untadelige Person. Seine Worte und Taten waren frei von der üblichen menschlichen Verdorbenheit – etwas versprechen und dann nicht halten, etwas anstellen und dann den Kopf in den Sand stecken, im Hintern einen Zettel: »Das war ich nicht. Das war schon so.«
    Als Junker einmal zu viel von dem teuren Wein getrunken hatte, begann er, Nikita von bis ins kleinste durchdachten Plänen für ein Attentat auf den Präsidenten, einen Terroranschlag in der Staatsduma und Aktionen gegen kleine, aber absolut widerliche Beamte vorzuschwärmen. Dann redete er über die Entführung von Ministern, die Vorbereitung eines Aufstands in der Armee, bis er plötzlich mit theatralischer Geste innehielt und eine neue Flasche öffnete.
    An jenem Tag entdeckte Nikita auf seinem Tisch neben Richters Memoiren die Erinnerungen des Ästheten und Terroristen Boris Sawinkow. Und lächelte voller Verständnis. Obwohl Sawinkow mit seinem Übermenschen-Snobismusund seiner aristokratischen Unnahbarkeit ihm stets
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