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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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fremd geblieben war. Im Unterschied zu dem Gottesmenschen Iwan Kaljajew, der sich mit der einen Hand bekreuzigte und in der anderen eine Bombe hielt und auf die jesuitischen Fragen des Atheisten Sawinkow wie: »Aber was ist mit ›Du sollst nicht töten‹, Wanja?« antwortete: »Ich muß es tun, weil ich liebe.«
    Streng nach den Gattungsregeln hätte Junker eigentlich Gedichte schreiben müssen. Und das tat er auch. Über weißgardistische Offiziere, Züge, die in die Nacht fuhren, und darüber, daß es »kein Zurück« gab. Aber er konnte besser reden als schreiben.
    Eines ihrer Gespräche würde Nikita sein Leben lang nicht vergessen. Junker sprach von der Schlacht auf dem Schnepfenfeld. Dabei machte er ein Gesicht und ereiferte sich, als rede er nicht von einem Fürsten, der seit siebenhundert Jahren tot war, sondern von sich selbst. Und als sei das alles erst gestern geschehen. Oder sogar heute. Gerade eben.
    »Das war ja der letzte Versuch. Der allerletzte! Und von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und du, ein Grünschnabel ohne Selbstvertrauen, du läßt deinen Ruf erschallen in all diesen verstreuten Fürstentümern, die allein schon das Wort ›Rus‹ offenbar längst vergessen haben. Und bis zum Schluß weißt du nicht, ob überhaupt jemand kommen wird. Doch plötzlich kommen alle. Und du bist wie erschlagen von dem, was da auf dir lastet. Du begreifst: Das hier ist Geschichte. Jetzt oder nie. Du gibst den Befehl, den Fluß zu überqueren. Wozu? Es wäre doch viel leichter gewesen, am anderen Ufer zu bleiben und den Gegner einfach nicht herüberzulassen. Aber du tust es. Warum? Um einen Rückzug zu verhindern. Untergang oder Sieg. Ohne jede Alternative. Und dann opferst du dein bestes Regiment. Denn nur sokann man gewinnen. Du läßt diese Leute einfach ins offene Messer laufen. Deine Freunde. Sie ziehen alle an dir vorbei. Du sagst: ›Wir werden siegen!‹, doch du weißt, daß sie alle sterben werden. Alle. Und daß nicht du diese Entscheidung getroffen hast. Du hast sie nur ausgeführt …«
    Junker mußte husten, und Nikita dachte, daß genau dies für ihn Rußland sein würde. Wenn er eines Tages weit weg von hier wäre. Oder vielleicht sogar nach seinem Tod. Er würde nicht an Birken und Ebereschen zurückdenken, schon gar nicht an »himmelblaue Uniformen«, sondern an Junker, der von Dmitri Donskoi sprach wie von sich selbst.

4
    »Du bist ja richtig verliebt in ihn!« lachte Alja, als Nikita ihr von Junker erzählte. »Sei ihm gegenüber nicht zu offen. Er ist nicht so einfältig, wie er tut. Ein undurchsichtiger Geselle. Der perfekte Provokateur! Der zieht dich in eine Verschwörung, in einen Regierungsumsturz rein, und dann hält er dir einen FSB-Ausweis unter die Nase.«
    Nikita stritt nicht mit ihr. Obwohl er keinen Augenblick an Junker zweifelte. Nikita trank den grünen Tee, den Alja ihm vorsetzte, und atmete gewissenhaft das Aroma ein – »zur Regeneration der Aura«. Mit Alja zu streiten war sinnlos. Sie war eine junge Frau mit einem komplizierten Schicksal.
    Früher einmal, im »vorvorigen Leben«, hatte sie in Odessa gelebt.
    »Dann fing mein Stiefvater an, mich regelmäßig zu vergewaltigen«, erzählte Alja im Plauderton, während sie grünen Tee eingoß, »und da bin ich nach Piter abgehauen.«
    In Piter begann Alja ein Regiestudium. »Man prophezeite ihr eine große Zukunft«, wie es so schön heißt. Solange die Zukunft noch nicht eingetroffen war, genoß sie die Gegenwart in vollen Zügen. Die Künstlerszene, das aktive Nachtleben, ein eigenmächtig besetztes Wohnheimzimmer.
    Eine Episode aus ihrem zweiten Leben: Auch die erzählte Alja in leichtem, ruhigem Plauderton, wie nebenbei. Von dieser ihrer Eigenart war Nikita jedesmal schockiert.
    »Damals war gerade das Pink-Floyd-Album Division bell rausgekommen. Ich lag mit einem Malerfreund bei ihm zu Hause auf dem Fußboden, im Dunkeln, wir tranken Wein, rauchten Haschisch und hörten uns die Platte an. Plötzlich rückte er mir auf die Pelle, offenbar von der Musik angeturnt, aber ich mag nun mal keine Männer mit Bart, jedenfalls, ich tat, als hätte er mich schrecklich gekränkt mit seinen Belästigungen, und wollte sofort nach Hause. Es war schon spät, er wollte mich begleiten, aber ich war dagegen, ich mußte schließlich weiter die beleidigte Diva mimen. In der Straßenbahn starrt mich die ganze Zeit so ein Irrer mit Aktentasche an. Na, denk ich, der will mich wohl vergewaltigen. Und richtig! Ich steige aus, er hinterher,
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